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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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Ungarn und Oesterreich.
(Aus einem Privatbrieft an die Redaction.)

........Ungarn betreffend aber müssen meiner Meinung nach ganz andere leitende

Grundsätze beobachtet werden, als dies bei den meisten deutschen Journalen bis¬
her der Fall war. Einmal verdient es weit mehr Beachtung und Berücksichti¬
gung, als man auf den ersten Anblick glauben möchte. Ungarn's bewegtes Leben
war von so bedeutendem Einflüsse aus die Gestnnuugsfortschritte Oesterreichs, daß
sich mit Zuversicht behaupten läßt, die Oesterreichs wären in Jahrzehnten nicht
auf jene Stufe des politischen Bewußtseins gelangt, auf welcher wir sie jetzt be¬
grüßen. Bei dem regen und steten Verkehr namentlich des bemittelten Bürger¬
standes, konnte der auffallende Contrast unserer Zustände nicht ohne die besten
Folgen bleiben. Hier ein freies, wenn gleich oft ungestümes Leben, dort Apa¬
thie und geistige Niedergeschlagenheit. Der österreichische Reisende mußte freier
athmen, so wie er die Grenze überschritt. Die Angel'undcnheit, so wie das warme
Interesse, mit welchen an allen Orten über jede öffentliche Angelegenheit gespro¬
chen wird, mußte ihm nothwendigerweise Vergleiche aufdringen, die nicht zu
Gunsten seines Vaterlandes ausfallen konnten, andrerseits aber sein Augenmerk
auch auf die Angelegenheit seines Landes richten; er mußte denken -- und das
war schon Gewinn. Freilich finden sich Auswüchse, freilich finden sich Abnormi¬
täten, die seiner ruhigen Natur nicht zusagten und namentlich fehlte ihm-- die
Polizei, welche den Oesterreichs als Amme an der Wiege begrüßt und als Vor-
,mund bis an's Grab begleitet. Aber er überzeugte sich auch bald wieder, daß
bei zunehmender Civilisation die vielen Ausschweifungen der Zügellosigkeit aufhör¬
ten, daß Ungarn eine europäische Physiognomie, gesittete Lebensart gewinnt, ohne
daß ihm die Gouvernante Polizei stets ihr donc/ veins äioitv, MitlZomoiseUe,
zurief. Unsere Justiz fand gleichfalls keinen Beifall in den Augen des Oesterrei-
cher's, und diese ließe auch jetzt noch gar viel zu wünschen übrig -- aber der
gesunde Sinn des Bürgers, so wie die größere Oeffentlichkeit unserer Journale
bewirken auch in dieser Beziehung einen Fortschritt, der nur auf dem Wege der
Legislatur -- die vollständige Reform ist natürlich dieser vorbehalten und dürfte
nicht allzulange auf sich warten lassen -- durchzusahren ist. So kam es, daß un¬
sere Nachbarn jenes Volk der Barbaren, das sie im Reflexe der Wiener Bonmots
nur zu belachen gewohnt waren, immer mehr nud mehr achten und es sich
gestehen mußten, daß jenem Volke des Orientes unter dem rohen Schaffelle ein
edles Herz schlägt, sür Großes und Schönes begeistert, daß die rauhe Schale einen
gesunden Kern berge, und daß ein Volk, das in Masse noch nnter der Schulbil¬
dung österreichischer Weisheit steht, dennoch an politischer Aufklärung über ihm
steht und theilweise selbst mit Deutschland wetteifern kann.


Ungarn und Oesterreich.
(Aus einem Privatbrieft an die Redaction.)

........Ungarn betreffend aber müssen meiner Meinung nach ganz andere leitende

Grundsätze beobachtet werden, als dies bei den meisten deutschen Journalen bis¬
her der Fall war. Einmal verdient es weit mehr Beachtung und Berücksichti¬
gung, als man auf den ersten Anblick glauben möchte. Ungarn's bewegtes Leben
war von so bedeutendem Einflüsse aus die Gestnnuugsfortschritte Oesterreichs, daß
sich mit Zuversicht behaupten läßt, die Oesterreichs wären in Jahrzehnten nicht
auf jene Stufe des politischen Bewußtseins gelangt, auf welcher wir sie jetzt be¬
grüßen. Bei dem regen und steten Verkehr namentlich des bemittelten Bürger¬
standes, konnte der auffallende Contrast unserer Zustände nicht ohne die besten
Folgen bleiben. Hier ein freies, wenn gleich oft ungestümes Leben, dort Apa¬
thie und geistige Niedergeschlagenheit. Der österreichische Reisende mußte freier
athmen, so wie er die Grenze überschritt. Die Angel'undcnheit, so wie das warme
Interesse, mit welchen an allen Orten über jede öffentliche Angelegenheit gespro¬
chen wird, mußte ihm nothwendigerweise Vergleiche aufdringen, die nicht zu
Gunsten seines Vaterlandes ausfallen konnten, andrerseits aber sein Augenmerk
auch auf die Angelegenheit seines Landes richten; er mußte denken — und das
war schon Gewinn. Freilich finden sich Auswüchse, freilich finden sich Abnormi¬
täten, die seiner ruhigen Natur nicht zusagten und namentlich fehlte ihm— die
Polizei, welche den Oesterreichs als Amme an der Wiege begrüßt und als Vor-
,mund bis an's Grab begleitet. Aber er überzeugte sich auch bald wieder, daß
bei zunehmender Civilisation die vielen Ausschweifungen der Zügellosigkeit aufhör¬
ten, daß Ungarn eine europäische Physiognomie, gesittete Lebensart gewinnt, ohne
daß ihm die Gouvernante Polizei stets ihr donc/ veins äioitv, MitlZomoiseUe,
zurief. Unsere Justiz fand gleichfalls keinen Beifall in den Augen des Oesterrei-
cher's, und diese ließe auch jetzt noch gar viel zu wünschen übrig — aber der
gesunde Sinn des Bürgers, so wie die größere Oeffentlichkeit unserer Journale
bewirken auch in dieser Beziehung einen Fortschritt, der nur auf dem Wege der
Legislatur — die vollständige Reform ist natürlich dieser vorbehalten und dürfte
nicht allzulange auf sich warten lassen — durchzusahren ist. So kam es, daß un¬
sere Nachbarn jenes Volk der Barbaren, das sie im Reflexe der Wiener Bonmots
nur zu belachen gewohnt waren, immer mehr nud mehr achten und es sich
gestehen mußten, daß jenem Volke des Orientes unter dem rohen Schaffelle ein
edles Herz schlägt, sür Großes und Schönes begeistert, daß die rauhe Schale einen
gesunden Kern berge, und daß ein Volk, das in Masse noch nnter der Schulbil¬
dung österreichischer Weisheit steht, dennoch an politischer Aufklärung über ihm
steht und theilweise selbst mit Deutschland wetteifern kann.


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[0430] Ungarn und Oesterreich. (Aus einem Privatbrieft an die Redaction.) ........Ungarn betreffend aber müssen meiner Meinung nach ganz andere leitende Grundsätze beobachtet werden, als dies bei den meisten deutschen Journalen bis¬ her der Fall war. Einmal verdient es weit mehr Beachtung und Berücksichti¬ gung, als man auf den ersten Anblick glauben möchte. Ungarn's bewegtes Leben war von so bedeutendem Einflüsse aus die Gestnnuugsfortschritte Oesterreichs, daß sich mit Zuversicht behaupten läßt, die Oesterreichs wären in Jahrzehnten nicht auf jene Stufe des politischen Bewußtseins gelangt, auf welcher wir sie jetzt be¬ grüßen. Bei dem regen und steten Verkehr namentlich des bemittelten Bürger¬ standes, konnte der auffallende Contrast unserer Zustände nicht ohne die besten Folgen bleiben. Hier ein freies, wenn gleich oft ungestümes Leben, dort Apa¬ thie und geistige Niedergeschlagenheit. Der österreichische Reisende mußte freier athmen, so wie er die Grenze überschritt. Die Angel'undcnheit, so wie das warme Interesse, mit welchen an allen Orten über jede öffentliche Angelegenheit gespro¬ chen wird, mußte ihm nothwendigerweise Vergleiche aufdringen, die nicht zu Gunsten seines Vaterlandes ausfallen konnten, andrerseits aber sein Augenmerk auch auf die Angelegenheit seines Landes richten; er mußte denken — und das war schon Gewinn. Freilich finden sich Auswüchse, freilich finden sich Abnormi¬ täten, die seiner ruhigen Natur nicht zusagten und namentlich fehlte ihm— die Polizei, welche den Oesterreichs als Amme an der Wiege begrüßt und als Vor- ,mund bis an's Grab begleitet. Aber er überzeugte sich auch bald wieder, daß bei zunehmender Civilisation die vielen Ausschweifungen der Zügellosigkeit aufhör¬ ten, daß Ungarn eine europäische Physiognomie, gesittete Lebensart gewinnt, ohne daß ihm die Gouvernante Polizei stets ihr donc/ veins äioitv, MitlZomoiseUe, zurief. Unsere Justiz fand gleichfalls keinen Beifall in den Augen des Oesterrei- cher's, und diese ließe auch jetzt noch gar viel zu wünschen übrig — aber der gesunde Sinn des Bürgers, so wie die größere Oeffentlichkeit unserer Journale bewirken auch in dieser Beziehung einen Fortschritt, der nur auf dem Wege der Legislatur — die vollständige Reform ist natürlich dieser vorbehalten und dürfte nicht allzulange auf sich warten lassen — durchzusahren ist. So kam es, daß un¬ sere Nachbarn jenes Volk der Barbaren, das sie im Reflexe der Wiener Bonmots nur zu belachen gewohnt waren, immer mehr nud mehr achten und es sich gestehen mußten, daß jenem Volke des Orientes unter dem rohen Schaffelle ein edles Herz schlägt, sür Großes und Schönes begeistert, daß die rauhe Schale einen gesunden Kern berge, und daß ein Volk, das in Masse noch nnter der Schulbil¬ dung österreichischer Weisheit steht, dennoch an politischer Aufklärung über ihm steht und theilweise selbst mit Deutschland wetteifern kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/430>, abgerufen am 29.06.2024.