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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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i.
Aus Bremen.

Holtet und seine Vorlesungen. -- Der schlesische Dialekt. -- Unanständige Bescheidenheit.
-- Die beiden Zeitungen. -- Wilhelm Jordan. -- Bürgermeister Smidt. -- Zur Cha¬
rakteristik der Stadt. -- Die Cigarrenmachcr. -- Theater und Geistlichkeit.

Herr von Holtet macht hier bei uns mit seinen Vorlesungen Shakspear'scher
Stücke, deren er bereits fünf gehalten hat, ein außerordentliches Glück. Der
Saal des Krameramthauses, welcher gegen 3--400 Menschen faßt, war bei al¬
len Vorlesungen in einer Weise gefüllt, die für sehr viele Zuhörer sogar den
Genuß bedeutend beeinträchtigte. Da die Vorlesungen immer gegen drei Stunden
dauern, und schon eine Stunde vorher die Gesellschaft der Plätze wegen sich sam¬
melt, so hat man in der That die Ausdrücke zu bewundern, mit welcher unser
Publicum sich einen Genuß erkämpfte, den ihm leider hier wie anderwärts die
Bühne selbst versagt und versagen muß. Diese Holtei'schen Vorlesungen sind in
der That ein schlagender Beweis, wie sehr unsre Zeit nach ächter und gehalt¬
voller dramatischer Poesie sich sehnt, und wie wenig fast überall in Deutschland
die Theaterzustände geeignet sind, diesem Bedürfnisse zu entsprechen. Denn Nie¬
mand wird behaupten "vollen, daß auch die virtuoscuhafteste Vorlesung im Staude
sei, die wirkliche und würdige Verleiblichung eines dramatischen Kunstwerks durch
die Bühne zu ersetzen. Aber so wie gegenwärtig die Sachen stehen, wo ein künst¬
lerisches Zusammenwirken zu einer vollendeten Vorstellung eines Shakspear'-
sehen, Goethe'sehen und Schiller'sehen Drama's auf unsern Theatern in das Reich
der Fabeln gehört, kann freilich das Virtuosenthum eines Vorlesers allein einen
solchen Ersatz gewähren. Herr von Holtei ist ein solcher Virtuose. Die leiden¬
schaftlich erregten Partien, die Individualisirung der männlichen Charaktere, ko¬
mischer wie tragischer Art, gelingt ihm vortrefflich, weniger die edel getragenen
Partien, die grübelnde Reflexion Hamlets, die freie hoheitvvlle Grazie, der adelige
Schwung in der Sprache der Fürsten, und am wenigsten alle weiblichen Rollen.
Hier wird sein Vortrag, der die männliche Leidenschaft mit herzerschütternder
Wahrheit zu malen versteht, breit und farblos, der Stimmton erhält einen alt¬
lich weichen Beigeschmack, und entbehrt ebenso sehr den halben sichern Nollklang


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i.
Aus Bremen.

Holtet und seine Vorlesungen. — Der schlesische Dialekt. — Unanständige Bescheidenheit.
— Die beiden Zeitungen. — Wilhelm Jordan. — Bürgermeister Smidt. — Zur Cha¬
rakteristik der Stadt. — Die Cigarrenmachcr. — Theater und Geistlichkeit.

Herr von Holtet macht hier bei uns mit seinen Vorlesungen Shakspear'scher
Stücke, deren er bereits fünf gehalten hat, ein außerordentliches Glück. Der
Saal des Krameramthauses, welcher gegen 3—400 Menschen faßt, war bei al¬
len Vorlesungen in einer Weise gefüllt, die für sehr viele Zuhörer sogar den
Genuß bedeutend beeinträchtigte. Da die Vorlesungen immer gegen drei Stunden
dauern, und schon eine Stunde vorher die Gesellschaft der Plätze wegen sich sam¬
melt, so hat man in der That die Ausdrücke zu bewundern, mit welcher unser
Publicum sich einen Genuß erkämpfte, den ihm leider hier wie anderwärts die
Bühne selbst versagt und versagen muß. Diese Holtei'schen Vorlesungen sind in
der That ein schlagender Beweis, wie sehr unsre Zeit nach ächter und gehalt¬
voller dramatischer Poesie sich sehnt, und wie wenig fast überall in Deutschland
die Theaterzustände geeignet sind, diesem Bedürfnisse zu entsprechen. Denn Nie¬
mand wird behaupten »vollen, daß auch die virtuoscuhafteste Vorlesung im Staude
sei, die wirkliche und würdige Verleiblichung eines dramatischen Kunstwerks durch
die Bühne zu ersetzen. Aber so wie gegenwärtig die Sachen stehen, wo ein künst¬
lerisches Zusammenwirken zu einer vollendeten Vorstellung eines Shakspear'-
sehen, Goethe'sehen und Schiller'sehen Drama's auf unsern Theatern in das Reich
der Fabeln gehört, kann freilich das Virtuosenthum eines Vorlesers allein einen
solchen Ersatz gewähren. Herr von Holtei ist ein solcher Virtuose. Die leiden¬
schaftlich erregten Partien, die Individualisirung der männlichen Charaktere, ko¬
mischer wie tragischer Art, gelingt ihm vortrefflich, weniger die edel getragenen
Partien, die grübelnde Reflexion Hamlets, die freie hoheitvvlle Grazie, der adelige
Schwung in der Sprache der Fürsten, und am wenigsten alle weiblichen Rollen.
Hier wird sein Vortrag, der die männliche Leidenschaft mit herzerschütternder
Wahrheit zu malen versteht, breit und farblos, der Stimmton erhält einen alt¬
lich weichen Beigeschmack, und entbehrt ebenso sehr den halben sichern Nollklang


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[0036] T a g e b u es. i. Aus Bremen. Holtet und seine Vorlesungen. — Der schlesische Dialekt. — Unanständige Bescheidenheit. — Die beiden Zeitungen. — Wilhelm Jordan. — Bürgermeister Smidt. — Zur Cha¬ rakteristik der Stadt. — Die Cigarrenmachcr. — Theater und Geistlichkeit. Herr von Holtet macht hier bei uns mit seinen Vorlesungen Shakspear'scher Stücke, deren er bereits fünf gehalten hat, ein außerordentliches Glück. Der Saal des Krameramthauses, welcher gegen 3—400 Menschen faßt, war bei al¬ len Vorlesungen in einer Weise gefüllt, die für sehr viele Zuhörer sogar den Genuß bedeutend beeinträchtigte. Da die Vorlesungen immer gegen drei Stunden dauern, und schon eine Stunde vorher die Gesellschaft der Plätze wegen sich sam¬ melt, so hat man in der That die Ausdrücke zu bewundern, mit welcher unser Publicum sich einen Genuß erkämpfte, den ihm leider hier wie anderwärts die Bühne selbst versagt und versagen muß. Diese Holtei'schen Vorlesungen sind in der That ein schlagender Beweis, wie sehr unsre Zeit nach ächter und gehalt¬ voller dramatischer Poesie sich sehnt, und wie wenig fast überall in Deutschland die Theaterzustände geeignet sind, diesem Bedürfnisse zu entsprechen. Denn Nie¬ mand wird behaupten »vollen, daß auch die virtuoscuhafteste Vorlesung im Staude sei, die wirkliche und würdige Verleiblichung eines dramatischen Kunstwerks durch die Bühne zu ersetzen. Aber so wie gegenwärtig die Sachen stehen, wo ein künst¬ lerisches Zusammenwirken zu einer vollendeten Vorstellung eines Shakspear'- sehen, Goethe'sehen und Schiller'sehen Drama's auf unsern Theatern in das Reich der Fabeln gehört, kann freilich das Virtuosenthum eines Vorlesers allein einen solchen Ersatz gewähren. Herr von Holtei ist ein solcher Virtuose. Die leiden¬ schaftlich erregten Partien, die Individualisirung der männlichen Charaktere, ko¬ mischer wie tragischer Art, gelingt ihm vortrefflich, weniger die edel getragenen Partien, die grübelnde Reflexion Hamlets, die freie hoheitvvlle Grazie, der adelige Schwung in der Sprache der Fürsten, und am wenigsten alle weiblichen Rollen. Hier wird sein Vortrag, der die männliche Leidenschaft mit herzerschütternder Wahrheit zu malen versteht, breit und farblos, der Stimmton erhält einen alt¬ lich weichen Beigeschmack, und entbehrt ebenso sehr den halben sichern Nollklang

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/36>, abgerufen am 29.06.2024.