Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
T a g e ki u es.



i.
Aus Paris.

Praktische Leute und Poeten. -- Lamartine's Warnungen. -- El" Ausspruch der
Times. -- John Rüssel. -- Der Prnfccr der Seine und der Eorrespondcnt der
Grenzboten.

Ein Poet! -- Das genügt gewöhnlich für die "praktischen" Leute, und vor
allem für die "praktischen" Politiker, um Alles, was aus tiefem Gemüthe flicht,
mit einem verächtlichen Schulterzucken ab und zur Ruhe zu verweisen. Aber du
mein Himmel, was würde aus diesen "praktischen" Menschen geworden sein,
wenn die Poeten in der Geschichte der Menschheit gefehlt hätten! Doch habe ich
nicht Lust heute im Allgemeinen über den Werth und die Bedeutung der "un¬
praktischen" Poeten im Gegensatz zu den "praktischen" Politikern zu sprechen.
Es fiel mir mir bei der Rede eines der praktischen Politiker des allerprattischsten
Volkes in der Welt -- das Wort eines Poeten ein.

Entsinnen Sie sich noch des schonen Manifestes, das Herr v. Lamartine im
vorigen Spätherbste erließ? Er ahnte damals die kommenden Dinge; er sah
Noth, Hunger und Elend voraus. Er rief aller Welt zu: "Sorgt in der
Zeit, denn uns stehen böse Tage bevor!" Und so rieth er, nach allen
Seiten hin vorzubeugen, um die Drohung abzuwenden. Er zeigte die "prakti¬
schen" Vorschläge der verschiedenen sozialistischen Schulen, und rieth sie zu ver¬
suchen und bewies, wie manche augenblicklich ausführbar seien und ein unmittel¬
bares Ergebniß zur Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände liefern würden.
Er forderte die Anhänger der alten Systeme auf, ihre Anstrengungen zu vermeh¬
ren, die milden Gaben zu verdoppeln, den Almosen und persönlichen lluterstü-
tzungen eine so weite Grundlage zu geben, als es immerhin die Kräfte jedes
Einzelnen und der Korporationen erlaubten. Er warnte zum Voraus vor der
Folge, die jedes Nothjahr in der Regel hat, daß nämlich die Reichen sich vom
Schrecke" mit hinreißen lassen und ihre vollen Kisten und Kasten schließen. Er
bat im Namen der Menschheit, im Namen der Armen, der Hungernden - - die
seinem Poetenblicke vorschwebten, -- zum Voraus um die milde Gabe vermehr-


T a g e ki u es.



i.
Aus Paris.

Praktische Leute und Poeten. — Lamartine's Warnungen. — El» Ausspruch der
Times. — John Rüssel. — Der Prnfccr der Seine und der Eorrespondcnt der
Grenzboten.

Ein Poet! — Das genügt gewöhnlich für die „praktischen" Leute, und vor
allem für die „praktischen" Politiker, um Alles, was aus tiefem Gemüthe flicht,
mit einem verächtlichen Schulterzucken ab und zur Ruhe zu verweisen. Aber du
mein Himmel, was würde aus diesen „praktischen" Menschen geworden sein,
wenn die Poeten in der Geschichte der Menschheit gefehlt hätten! Doch habe ich
nicht Lust heute im Allgemeinen über den Werth und die Bedeutung der „un¬
praktischen" Poeten im Gegensatz zu den „praktischen" Politikern zu sprechen.
Es fiel mir mir bei der Rede eines der praktischen Politiker des allerprattischsten
Volkes in der Welt — das Wort eines Poeten ein.

Entsinnen Sie sich noch des schonen Manifestes, das Herr v. Lamartine im
vorigen Spätherbste erließ? Er ahnte damals die kommenden Dinge; er sah
Noth, Hunger und Elend voraus. Er rief aller Welt zu: „Sorgt in der
Zeit, denn uns stehen böse Tage bevor!" Und so rieth er, nach allen
Seiten hin vorzubeugen, um die Drohung abzuwenden. Er zeigte die „prakti¬
schen" Vorschläge der verschiedenen sozialistischen Schulen, und rieth sie zu ver¬
suchen und bewies, wie manche augenblicklich ausführbar seien und ein unmittel¬
bares Ergebniß zur Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände liefern würden.
Er forderte die Anhänger der alten Systeme auf, ihre Anstrengungen zu vermeh¬
ren, die milden Gaben zu verdoppeln, den Almosen und persönlichen lluterstü-
tzungen eine so weite Grundlage zu geben, als es immerhin die Kräfte jedes
Einzelnen und der Korporationen erlaubten. Er warnte zum Voraus vor der
Folge, die jedes Nothjahr in der Regel hat, daß nämlich die Reichen sich vom
Schrecke» mit hinreißen lassen und ihre vollen Kisten und Kasten schließen. Er
bat im Namen der Menschheit, im Namen der Armen, der Hungernden - - die
seinem Poetenblicke vorschwebten, — zum Voraus um die milde Gabe vermehr-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0356" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/272255"/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> T a g e ki u es.</head><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="2">
            <head> i.<lb/>
Aus Paris.</head><lb/>
            <note type="argument"> Praktische Leute und Poeten. &#x2014; Lamartine's Warnungen. &#x2014; El» Ausspruch der<lb/>
Times. &#x2014; John Rüssel. &#x2014; Der Prnfccr der Seine und der Eorrespondcnt der<lb/>
Grenzboten.</note><lb/>
            <p xml:id="ID_1238"> Ein Poet! &#x2014; Das genügt gewöhnlich für die &#x201E;praktischen" Leute, und vor<lb/>
allem für die &#x201E;praktischen" Politiker, um Alles, was aus tiefem Gemüthe flicht,<lb/>
mit einem verächtlichen Schulterzucken ab und zur Ruhe zu verweisen. Aber du<lb/>
mein Himmel, was würde aus diesen &#x201E;praktischen" Menschen geworden sein,<lb/>
wenn die Poeten in der Geschichte der Menschheit gefehlt hätten! Doch habe ich<lb/>
nicht Lust heute im Allgemeinen über den Werth und die Bedeutung der &#x201E;un¬<lb/>
praktischen" Poeten im Gegensatz zu den &#x201E;praktischen" Politikern zu sprechen.<lb/>
Es fiel mir mir bei der Rede eines der praktischen Politiker des allerprattischsten<lb/>
Volkes in der Welt &#x2014; das Wort eines Poeten ein.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1239" next="#ID_1240"> Entsinnen Sie sich noch des schonen Manifestes, das Herr v. Lamartine im<lb/>
vorigen Spätherbste erließ? Er ahnte damals die kommenden Dinge; er sah<lb/>
Noth, Hunger und Elend voraus. Er rief aller Welt zu: &#x201E;Sorgt in der<lb/>
Zeit, denn uns stehen böse Tage bevor!" Und so rieth er, nach allen<lb/>
Seiten hin vorzubeugen, um die Drohung abzuwenden. Er zeigte die &#x201E;prakti¬<lb/>
schen" Vorschläge der verschiedenen sozialistischen Schulen, und rieth sie zu ver¬<lb/>
suchen und bewies, wie manche augenblicklich ausführbar seien und ein unmittel¬<lb/>
bares Ergebniß zur Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände liefern würden.<lb/>
Er forderte die Anhänger der alten Systeme auf, ihre Anstrengungen zu vermeh¬<lb/>
ren, die milden Gaben zu verdoppeln, den Almosen und persönlichen lluterstü-<lb/>
tzungen eine so weite Grundlage zu geben, als es immerhin die Kräfte jedes<lb/>
Einzelnen und der Korporationen erlaubten. Er warnte zum Voraus vor der<lb/>
Folge, die jedes Nothjahr in der Regel hat, daß nämlich die Reichen sich vom<lb/>
Schrecke» mit hinreißen lassen und ihre vollen Kisten und Kasten schließen. Er<lb/>
bat im Namen der Menschheit, im Namen der Armen, der Hungernden - - die<lb/>
seinem Poetenblicke vorschwebten, &#x2014; zum Voraus um die milde Gabe vermehr-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0356] T a g e ki u es. i. Aus Paris. Praktische Leute und Poeten. — Lamartine's Warnungen. — El» Ausspruch der Times. — John Rüssel. — Der Prnfccr der Seine und der Eorrespondcnt der Grenzboten. Ein Poet! — Das genügt gewöhnlich für die „praktischen" Leute, und vor allem für die „praktischen" Politiker, um Alles, was aus tiefem Gemüthe flicht, mit einem verächtlichen Schulterzucken ab und zur Ruhe zu verweisen. Aber du mein Himmel, was würde aus diesen „praktischen" Menschen geworden sein, wenn die Poeten in der Geschichte der Menschheit gefehlt hätten! Doch habe ich nicht Lust heute im Allgemeinen über den Werth und die Bedeutung der „un¬ praktischen" Poeten im Gegensatz zu den „praktischen" Politikern zu sprechen. Es fiel mir mir bei der Rede eines der praktischen Politiker des allerprattischsten Volkes in der Welt — das Wort eines Poeten ein. Entsinnen Sie sich noch des schonen Manifestes, das Herr v. Lamartine im vorigen Spätherbste erließ? Er ahnte damals die kommenden Dinge; er sah Noth, Hunger und Elend voraus. Er rief aller Welt zu: „Sorgt in der Zeit, denn uns stehen böse Tage bevor!" Und so rieth er, nach allen Seiten hin vorzubeugen, um die Drohung abzuwenden. Er zeigte die „prakti¬ schen" Vorschläge der verschiedenen sozialistischen Schulen, und rieth sie zu ver¬ suchen und bewies, wie manche augenblicklich ausführbar seien und ein unmittel¬ bares Ergebniß zur Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände liefern würden. Er forderte die Anhänger der alten Systeme auf, ihre Anstrengungen zu vermeh¬ ren, die milden Gaben zu verdoppeln, den Almosen und persönlichen lluterstü- tzungen eine so weite Grundlage zu geben, als es immerhin die Kräfte jedes Einzelnen und der Korporationen erlaubten. Er warnte zum Voraus vor der Folge, die jedes Nothjahr in der Regel hat, daß nämlich die Reichen sich vom Schrecke» mit hinreißen lassen und ihre vollen Kisten und Kasten schließen. Er bat im Namen der Menschheit, im Namen der Armen, der Hungernden - - die seinem Poetenblicke vorschwebten, — zum Voraus um die milde Gabe vermehr-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/356
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/356>, abgerufen am 22.07.2024.