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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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Mische Stellung gewinnen kaun, die seiner ehemaligen Größe würdig wäre? Ich
will nicht sagen, daß ein durch mehrhundertjähriges Pfaffenregiment depravirtes
Staatsleben, dnrch einen plötzlichen Umschwung gesunden sollte, aber es kommen
doch sonst bei derartigen Umwälzungen großartige Tendenzen, bedeutende Charak¬
tere vor. In der spanischen Revolution sind sie nicht zu finden. Das Volk ist
eine Beute feiler, habsüchtiger Hofiutriguanten, bei denen kaum eine Art lieder¬
licher Genialität ihre sittliche Hohlheit vergessen läßt. Das Gift scheint denn doch
im Volke tiefer um sich gefressen zu haben', so gesund und kräftig es auch aus¬
sieht, denn auf der Physiognomie des "officiellen Spaniens" -- um mich einer
beliebten Phrase zu bedienen -- muß sich doch einigermaßen der Charakter des
Volks ausprägen.


5. 'ö amen.

Wenn Spanien seine Bürgerkriege wenigstens zum Theil hinter sich zu haben
scheint, so beginnt dagegen in der Schweiz so eben eine neue Phase der politischen
Entwickelung, von der man noch nicht absehen kann, wohin sie eigentlich führen
wird. Sowohl die Rechtsfrage, die von den Zeitungen, namentlich den sogenann¬
ten conservativen, herausgekehrt wird, als das religiöse Interesse sind nicht das
jmnctum sativus dieser neuen Phase; es ist der Drang eines gesunden, kräftigen
Organismus, der sich frei nach allen Seiten hin ausdehnen und die ihm ange¬
messene Form gewinnen null. Der Schweizer Radicalismus ist nicht destructiv,
er ist seiner ganzen Tendenz nach organisirend. Das Naserümpfen, mit dem das
monarchische Deutschland ans die Enkel Tell'ö herabzublicken pflegte, wird sich nun
wohl legen, seitdem in einer bestimmten politischen Tendenz die Schweiz zum Bewußt¬
sein ihrer Kraftfülle gekommen ist. Mit Recht wenden daher gegenwärtig die Rei¬
senden ihre Aufmerksamkeit mehr auf die politische Währung, als auf die gro߬
artige Natur, die früher den alleinigen Gegenstand ihres poetischen und prosaischen
Enthusiasmus ausmacht. Wir haben diese neue Wendung der Reiseliteratur zu
seiner Zeit an dem Werke von Mügge über die Schweiz nachgewiesen. So eben
verläßt der erste Theil eines neuen Werks über denselben Gegenstand die Presse:
Die Schweiz. Topographisch, ethnographisch, politisch. Von W.
Ha um. (Leipzig, Weber). Der Verfasser, ehemals Docent in Gießen -- er ist
Schüler von Liebig -- gegenwärtig Redacteur der agronomischer Zeitung in Leip¬
zig, ist durch mehrjährigen Aufenthalt in der Schweiz, die er nach allen Richtungen
hin durchreist hat, durch seiue cameralistischen Studien, und durch die vielseitige
Bildung, die er sich auf seinen mannigfaltigen Reisen erworben hat, vorzüglich
befähigt, ein competentes Urtheil über die Verwickelungen jenes eigenthümlichen
Staatslebens abzugeben. Sein Hanptbcstreben bei diesem Werk (der erste Theil
umfaßt die Urcantone, die westliche Schweiz und Bern) ist, Jedem, der sich für die
Schweiz interesstrt, ein umfassendes Handbuch zu geben, worin er Alles, was für


Mische Stellung gewinnen kaun, die seiner ehemaligen Größe würdig wäre? Ich
will nicht sagen, daß ein durch mehrhundertjähriges Pfaffenregiment depravirtes
Staatsleben, dnrch einen plötzlichen Umschwung gesunden sollte, aber es kommen
doch sonst bei derartigen Umwälzungen großartige Tendenzen, bedeutende Charak¬
tere vor. In der spanischen Revolution sind sie nicht zu finden. Das Volk ist
eine Beute feiler, habsüchtiger Hofiutriguanten, bei denen kaum eine Art lieder¬
licher Genialität ihre sittliche Hohlheit vergessen läßt. Das Gift scheint denn doch
im Volke tiefer um sich gefressen zu haben', so gesund und kräftig es auch aus¬
sieht, denn auf der Physiognomie des „officiellen Spaniens" — um mich einer
beliebten Phrase zu bedienen — muß sich doch einigermaßen der Charakter des
Volks ausprägen.


5. 'ö amen.

Wenn Spanien seine Bürgerkriege wenigstens zum Theil hinter sich zu haben
scheint, so beginnt dagegen in der Schweiz so eben eine neue Phase der politischen
Entwickelung, von der man noch nicht absehen kann, wohin sie eigentlich führen
wird. Sowohl die Rechtsfrage, die von den Zeitungen, namentlich den sogenann¬
ten conservativen, herausgekehrt wird, als das religiöse Interesse sind nicht das
jmnctum sativus dieser neuen Phase; es ist der Drang eines gesunden, kräftigen
Organismus, der sich frei nach allen Seiten hin ausdehnen und die ihm ange¬
messene Form gewinnen null. Der Schweizer Radicalismus ist nicht destructiv,
er ist seiner ganzen Tendenz nach organisirend. Das Naserümpfen, mit dem das
monarchische Deutschland ans die Enkel Tell'ö herabzublicken pflegte, wird sich nun
wohl legen, seitdem in einer bestimmten politischen Tendenz die Schweiz zum Bewußt¬
sein ihrer Kraftfülle gekommen ist. Mit Recht wenden daher gegenwärtig die Rei¬
senden ihre Aufmerksamkeit mehr auf die politische Währung, als auf die gro߬
artige Natur, die früher den alleinigen Gegenstand ihres poetischen und prosaischen
Enthusiasmus ausmacht. Wir haben diese neue Wendung der Reiseliteratur zu
seiner Zeit an dem Werke von Mügge über die Schweiz nachgewiesen. So eben
verläßt der erste Theil eines neuen Werks über denselben Gegenstand die Presse:
Die Schweiz. Topographisch, ethnographisch, politisch. Von W.
Ha um. (Leipzig, Weber). Der Verfasser, ehemals Docent in Gießen — er ist
Schüler von Liebig — gegenwärtig Redacteur der agronomischer Zeitung in Leip¬
zig, ist durch mehrjährigen Aufenthalt in der Schweiz, die er nach allen Richtungen
hin durchreist hat, durch seiue cameralistischen Studien, und durch die vielseitige
Bildung, die er sich auf seinen mannigfaltigen Reisen erworben hat, vorzüglich
befähigt, ein competentes Urtheil über die Verwickelungen jenes eigenthümlichen
Staatslebens abzugeben. Sein Hanptbcstreben bei diesem Werk (der erste Theil
umfaßt die Urcantone, die westliche Schweiz und Bern) ist, Jedem, der sich für die
Schweiz interesstrt, ein umfassendes Handbuch zu geben, worin er Alles, was für


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[0300] Mische Stellung gewinnen kaun, die seiner ehemaligen Größe würdig wäre? Ich will nicht sagen, daß ein durch mehrhundertjähriges Pfaffenregiment depravirtes Staatsleben, dnrch einen plötzlichen Umschwung gesunden sollte, aber es kommen doch sonst bei derartigen Umwälzungen großartige Tendenzen, bedeutende Charak¬ tere vor. In der spanischen Revolution sind sie nicht zu finden. Das Volk ist eine Beute feiler, habsüchtiger Hofiutriguanten, bei denen kaum eine Art lieder¬ licher Genialität ihre sittliche Hohlheit vergessen läßt. Das Gift scheint denn doch im Volke tiefer um sich gefressen zu haben', so gesund und kräftig es auch aus¬ sieht, denn auf der Physiognomie des „officiellen Spaniens" — um mich einer beliebten Phrase zu bedienen — muß sich doch einigermaßen der Charakter des Volks ausprägen. 5. 'ö amen. Wenn Spanien seine Bürgerkriege wenigstens zum Theil hinter sich zu haben scheint, so beginnt dagegen in der Schweiz so eben eine neue Phase der politischen Entwickelung, von der man noch nicht absehen kann, wohin sie eigentlich führen wird. Sowohl die Rechtsfrage, die von den Zeitungen, namentlich den sogenann¬ ten conservativen, herausgekehrt wird, als das religiöse Interesse sind nicht das jmnctum sativus dieser neuen Phase; es ist der Drang eines gesunden, kräftigen Organismus, der sich frei nach allen Seiten hin ausdehnen und die ihm ange¬ messene Form gewinnen null. Der Schweizer Radicalismus ist nicht destructiv, er ist seiner ganzen Tendenz nach organisirend. Das Naserümpfen, mit dem das monarchische Deutschland ans die Enkel Tell'ö herabzublicken pflegte, wird sich nun wohl legen, seitdem in einer bestimmten politischen Tendenz die Schweiz zum Bewußt¬ sein ihrer Kraftfülle gekommen ist. Mit Recht wenden daher gegenwärtig die Rei¬ senden ihre Aufmerksamkeit mehr auf die politische Währung, als auf die gro߬ artige Natur, die früher den alleinigen Gegenstand ihres poetischen und prosaischen Enthusiasmus ausmacht. Wir haben diese neue Wendung der Reiseliteratur zu seiner Zeit an dem Werke von Mügge über die Schweiz nachgewiesen. So eben verläßt der erste Theil eines neuen Werks über denselben Gegenstand die Presse: Die Schweiz. Topographisch, ethnographisch, politisch. Von W. Ha um. (Leipzig, Weber). Der Verfasser, ehemals Docent in Gießen — er ist Schüler von Liebig — gegenwärtig Redacteur der agronomischer Zeitung in Leip¬ zig, ist durch mehrjährigen Aufenthalt in der Schweiz, die er nach allen Richtungen hin durchreist hat, durch seiue cameralistischen Studien, und durch die vielseitige Bildung, die er sich auf seinen mannigfaltigen Reisen erworben hat, vorzüglich befähigt, ein competentes Urtheil über die Verwickelungen jenes eigenthümlichen Staatslebens abzugeben. Sein Hanptbcstreben bei diesem Werk (der erste Theil umfaßt die Urcantone, die westliche Schweiz und Bern) ist, Jedem, der sich für die Schweiz interesstrt, ein umfassendes Handbuch zu geben, worin er Alles, was für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/300>, abgerufen am 22.07.2024.