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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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natürlich die warme, lebensvolle Darstellung der einzelnen Perioden
verlöten. In dieser Beziehung könnte er von Neander lernen. Er ist
für eine gute Geschichtschreibung, ähnlich, wie Schlosser, zu schroff uno
charaktervoll. Ueberhaupt ist diese charaktervolle Schroffheit auf dem
historisch-kritischen Gebiete dem Nationalismus eigen; eine Eigenheit,
welche ihn auch wohl zur Zeit bei der großen Masse, welche Partei¬
farbe haben will, so sehr in Aufnahme bringt. Demungeachtet möch¬
ten wir ihn für die theologische Praris nicht empfehlen. Der Ratio¬
nalismus macht dieselbe fahl und nüchtern. Das reine Menschenthum
genügt ihm nicht; nur zur Hälfte reißt er das kirchliche System ein
und ist unhöflich genug, den Leuten die Trümmer als Wohnung an¬
zuweisen. Auf der Universität (in Gießen wenigstens) legt er einen
ausschließlichen Werth auf den philologischen Theil der Theologie, füt¬
tert die jungen Leute mit Accenten zu Tode, so daß sie nüchtern und
leer an Geist und Herz die Hochschule verlassen und dann gar häufig
zur Revange dem Pietismus anheimfallen. Gießen hat nicht einen
tüchtigen modern gebildeten Dogmatiker. Die Studiosen, ohne Anre¬
gung und von mittelmäßigen Gymnasien kommend, sind darum meist phi¬
losophisch rüde; sie versäumen Das, was bei den Theologen die Haupt¬
sache ist, eine vielseitige, menschliche und mithin ästhetische Bildung.
Und doch muß ein guter Prediger vorzugsweise ästhetisch gebildet sein,
denn es läßt sich bis zur evidentesten Gewißheit nachweisen, daß der
Eindruck einer guten Predigt stets ein ästhetischer ist. und kein anderer.

Die Ehre der Gießener Theologie der allgemeinen Bildung ge¬
genüber rettet noch einigermaßen G. Baur, ein geistvoller, vielseitig ge¬
bildeter Docent, Eklektiker mit entschiedener Hinneigung zu Schleier-
macher, der übrigens auch schon lange auf Beförderung harrt, wahr¬
scheinlich deshalb, weil er es verschmäht, an dem Zopfe theologischer
Pedanterie in die Höhe zu klettern.


4. Philologie, Geschichte, Jurisprudenz, exacte Wissenschaften. Schluß.

Wir kommen zur Philologie. Sie ist in Gießen eben nicht
überflüssig besetzt. Osann, als Ordinarius, Otto, als Extraordinarius,
H. Fritzsche, Privatdocent. Osann ist über seiner Gelehrsamkeit alt
und grau geworden; er schließt sich feindlich gegen jede neuere Rich¬
tung ab und sieht als Direktor des philologischen Seminars das ein¬
zige Heil in einer minutiösen Textkritik. Otto ist geistreich, gelehrt und
für jedes moderne Element empfänglich; doch scheint es ihm an der¬
jenigen idealen Durchbildung zu mangeln, ohne welche in der Wissen-


natürlich die warme, lebensvolle Darstellung der einzelnen Perioden
verlöten. In dieser Beziehung könnte er von Neander lernen. Er ist
für eine gute Geschichtschreibung, ähnlich, wie Schlosser, zu schroff uno
charaktervoll. Ueberhaupt ist diese charaktervolle Schroffheit auf dem
historisch-kritischen Gebiete dem Nationalismus eigen; eine Eigenheit,
welche ihn auch wohl zur Zeit bei der großen Masse, welche Partei¬
farbe haben will, so sehr in Aufnahme bringt. Demungeachtet möch¬
ten wir ihn für die theologische Praris nicht empfehlen. Der Ratio¬
nalismus macht dieselbe fahl und nüchtern. Das reine Menschenthum
genügt ihm nicht; nur zur Hälfte reißt er das kirchliche System ein
und ist unhöflich genug, den Leuten die Trümmer als Wohnung an¬
zuweisen. Auf der Universität (in Gießen wenigstens) legt er einen
ausschließlichen Werth auf den philologischen Theil der Theologie, füt¬
tert die jungen Leute mit Accenten zu Tode, so daß sie nüchtern und
leer an Geist und Herz die Hochschule verlassen und dann gar häufig
zur Revange dem Pietismus anheimfallen. Gießen hat nicht einen
tüchtigen modern gebildeten Dogmatiker. Die Studiosen, ohne Anre¬
gung und von mittelmäßigen Gymnasien kommend, sind darum meist phi¬
losophisch rüde; sie versäumen Das, was bei den Theologen die Haupt¬
sache ist, eine vielseitige, menschliche und mithin ästhetische Bildung.
Und doch muß ein guter Prediger vorzugsweise ästhetisch gebildet sein,
denn es läßt sich bis zur evidentesten Gewißheit nachweisen, daß der
Eindruck einer guten Predigt stets ein ästhetischer ist. und kein anderer.

Die Ehre der Gießener Theologie der allgemeinen Bildung ge¬
genüber rettet noch einigermaßen G. Baur, ein geistvoller, vielseitig ge¬
bildeter Docent, Eklektiker mit entschiedener Hinneigung zu Schleier-
macher, der übrigens auch schon lange auf Beförderung harrt, wahr¬
scheinlich deshalb, weil er es verschmäht, an dem Zopfe theologischer
Pedanterie in die Höhe zu klettern.


4. Philologie, Geschichte, Jurisprudenz, exacte Wissenschaften. Schluß.

Wir kommen zur Philologie. Sie ist in Gießen eben nicht
überflüssig besetzt. Osann, als Ordinarius, Otto, als Extraordinarius,
H. Fritzsche, Privatdocent. Osann ist über seiner Gelehrsamkeit alt
und grau geworden; er schließt sich feindlich gegen jede neuere Rich¬
tung ab und sieht als Direktor des philologischen Seminars das ein¬
zige Heil in einer minutiösen Textkritik. Otto ist geistreich, gelehrt und
für jedes moderne Element empfänglich; doch scheint es ihm an der¬
jenigen idealen Durchbildung zu mangeln, ohne welche in der Wissen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/143>, abgerufen am 05.12.2024.