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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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Om Mittag in Genf.
Aus einem Neisetagcbuch.



Ein Fenster im vierten Stockwerk eines großen Hauses ans dem
Het?n "In Mlnnv ist jetzt meine ganze Seligkeit; jeder Blick, den ich
hinauswerfe, enthält einen ganzen Himmel an Wonne und süßen
Empfindungen. Der See in seiner blauen Pracht liegt vor mir, und
ich kann es nicht müde werden, hinausznschanen. Er übt eine so
magische Kraft auf mich aus, daß ich Frühstück und Mittagsmahl
über seinen Anblick vergesse. Und kann man denn hier in Genf etwas
Besseres thun, als seine Tage im harmlosen Genusse der Natur hin¬
bringen, wenn man durch Umstände gezwungen ist, nur mit der Herr-'
sehenden Kaste zu verkehren! Nein, es kann sich Niemand einen Be¬
griff machen von diesen Leuten, der nicht eine Zeit lang hier gelebt
hat. An andern Orten findet man dergleichen Menschen wohl auch,
aber nur vereinzelt. Hier sind sie eine compacte Masse, bilden die hö¬
hern Kreise der Gesellschaft lind haben das Ruder des Staats in
Händen- Todter Nnchstabenglaube, sinnliche Frömmelei, weichliche
Ueppigkeit, Engherzigkeit, Unduldsamkeit -- das sind die Hauptzüge
ihres Charakters. -- -- Einen meiner ersten Besuche machte ich bet
der Familie Zc., die bei Cologny an dem Ufer des Sees eine der rei¬
zendsten Campagnen bewohnt. Es ist eine der ersten und angesehen¬
sten Familien Genfs, die auch auswärts vielfach bekannt ist, deren
Namen ich aber aus Rücksicht der Gastfreundschaft verschweigen muß.
Wenn im Verlaufe dieser Zeilen so viel von Herrn Zc. die Rede ist,
der weder eine politische Rolle spielte, noch überhaupt ein außerge¬
wöhnlicher Mensch ist, so geschieht es nur darum, weil er der beste
Typus der hierorts herrschenden Finanzaristokratie ist. Herr A., etwa
50 Jahre alt, ist ein äußerst feiner Mann, fein bis an's Weibische


Om Mittag in Genf.
Aus einem Neisetagcbuch.



Ein Fenster im vierten Stockwerk eines großen Hauses ans dem
Het?n «In Mlnnv ist jetzt meine ganze Seligkeit; jeder Blick, den ich
hinauswerfe, enthält einen ganzen Himmel an Wonne und süßen
Empfindungen. Der See in seiner blauen Pracht liegt vor mir, und
ich kann es nicht müde werden, hinausznschanen. Er übt eine so
magische Kraft auf mich aus, daß ich Frühstück und Mittagsmahl
über seinen Anblick vergesse. Und kann man denn hier in Genf etwas
Besseres thun, als seine Tage im harmlosen Genusse der Natur hin¬
bringen, wenn man durch Umstände gezwungen ist, nur mit der Herr-'
sehenden Kaste zu verkehren! Nein, es kann sich Niemand einen Be¬
griff machen von diesen Leuten, der nicht eine Zeit lang hier gelebt
hat. An andern Orten findet man dergleichen Menschen wohl auch,
aber nur vereinzelt. Hier sind sie eine compacte Masse, bilden die hö¬
hern Kreise der Gesellschaft lind haben das Ruder des Staats in
Händen- Todter Nnchstabenglaube, sinnliche Frömmelei, weichliche
Ueppigkeit, Engherzigkeit, Unduldsamkeit — das sind die Hauptzüge
ihres Charakters. — — Einen meiner ersten Besuche machte ich bet
der Familie Zc., die bei Cologny an dem Ufer des Sees eine der rei¬
zendsten Campagnen bewohnt. Es ist eine der ersten und angesehen¬
sten Familien Genfs, die auch auswärts vielfach bekannt ist, deren
Namen ich aber aus Rücksicht der Gastfreundschaft verschweigen muß.
Wenn im Verlaufe dieser Zeilen so viel von Herrn Zc. die Rede ist,
der weder eine politische Rolle spielte, noch überhaupt ein außerge¬
wöhnlicher Mensch ist, so geschieht es nur darum, weil er der beste
Typus der hierorts herrschenden Finanzaristokratie ist. Herr A., etwa
50 Jahre alt, ist ein äußerst feiner Mann, fein bis an's Weibische


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[0112] Om Mittag in Genf. Aus einem Neisetagcbuch. Ein Fenster im vierten Stockwerk eines großen Hauses ans dem Het?n «In Mlnnv ist jetzt meine ganze Seligkeit; jeder Blick, den ich hinauswerfe, enthält einen ganzen Himmel an Wonne und süßen Empfindungen. Der See in seiner blauen Pracht liegt vor mir, und ich kann es nicht müde werden, hinausznschanen. Er übt eine so magische Kraft auf mich aus, daß ich Frühstück und Mittagsmahl über seinen Anblick vergesse. Und kann man denn hier in Genf etwas Besseres thun, als seine Tage im harmlosen Genusse der Natur hin¬ bringen, wenn man durch Umstände gezwungen ist, nur mit der Herr-' sehenden Kaste zu verkehren! Nein, es kann sich Niemand einen Be¬ griff machen von diesen Leuten, der nicht eine Zeit lang hier gelebt hat. An andern Orten findet man dergleichen Menschen wohl auch, aber nur vereinzelt. Hier sind sie eine compacte Masse, bilden die hö¬ hern Kreise der Gesellschaft lind haben das Ruder des Staats in Händen- Todter Nnchstabenglaube, sinnliche Frömmelei, weichliche Ueppigkeit, Engherzigkeit, Unduldsamkeit — das sind die Hauptzüge ihres Charakters. — — Einen meiner ersten Besuche machte ich bet der Familie Zc., die bei Cologny an dem Ufer des Sees eine der rei¬ zendsten Campagnen bewohnt. Es ist eine der ersten und angesehen¬ sten Familien Genfs, die auch auswärts vielfach bekannt ist, deren Namen ich aber aus Rücksicht der Gastfreundschaft verschweigen muß. Wenn im Verlaufe dieser Zeilen so viel von Herrn Zc. die Rede ist, der weder eine politische Rolle spielte, noch überhaupt ein außerge¬ wöhnlicher Mensch ist, so geschieht es nur darum, weil er der beste Typus der hierorts herrschenden Finanzaristokratie ist. Herr A., etwa 50 Jahre alt, ist ein äußerst feiner Mann, fein bis an's Weibische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/112>, abgerufen am 03.07.2024.