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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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und sich endlich zu einer solchen Potenz steigerte, daß man nie mehr
von Richard sprach, ohne bedeutungsvoll mit den Achseln zu zucken,
oder, je nach dem Alter, die Augen züchtig niederzuschlagen. Und
dennoch nicht die geringste Annäherung von seiner Seite, dennoch der¬
selbe kalte, gleichgültige Hohn, wie früher! Es war unausstehlich. Alle
Kunst war erschöpft. Und Richard sah nicht rechts und nicht links,
und wußte nichts von den böswilligen Klatschereien und hatte an
andere Dinge zu denken, und seine Gedanken waren wunderbarer
Art, mitunter glänzend und schön wie ein zuckender Blitz, mitunter
dumpf und erschütternd, wie der rollende Donner, und Donner und
Blitz wechselten so schnell, und die schwülen Gewitterwolken, die sich
über seiner Seele zusammengezogen hatten, waren so düster, daß er
das moralische Finger-" und Mienenspiel der Frau Bürgermeisterin
und Gefolge nicht bemerken konnte. Aber auch die wenigen Beweise
von wohlmeinender Theilnahme, die sich hier und da zeigten, gingen
spurlos an ihm vorüber. Verstohlen blickte ihm wohl ein junges
Mädchen nach, wenn er bei seinen täglichen Spaziergängen über die
Straße hineilte, und in ihrem Blicke hätte er deutlich die Worte le¬
sen können: "Wer ist der blasse, traurige Mann, der so allein in den
Wäldern umherstreift und so feine Wäsche trägt? -- ob er mich wohl
bemerkt?" -- Ach! nein, er bemerkt deine blühenden Wangen so we¬
nig, als deine lieben, theilnahmsvollen Augen, aber schaue ihm nur
nach, es gibt ja der Wohlmeinenden auf dieser Welt so wenige für
ihn.


II.

Es war ein heiterer Frühlingsabend, das glänzende Tagesgestirn
hatte seinen Lauf vollendet und zeichnete noch die höchsten Gipfel der
Berge mit purpurnen Tinten, milde Zephyre fächelten, von den Bäu¬
men herab schallten die Lieder der befiederten Sänger in wonnigen
Accorden, als der große Räuberhauptmann --- nein, nicht der große
Räuberhauptmann, sondern der friedfertige Richard einen einsamen
Bergpfad hinanstieg, um -- er wußte selbst nicht, in welcher Absicht,
und das thut auch nichts zur Sache. Vom Städtchen herüber er¬
tönten die Abendglocken, welche die Natur und die arbeitsmüden Men¬
schen zur Ruhe läuteten. Als er den Gipfel erreicht hatte, setzte
er sich an dem Rande des Fichtenwaldes nieder und kramte in seiner
Brieftasche. Mit flüchtigem Blicke überflog er halbvollendete Gedichte
und zerstreut hingeworfene Gedanken, welche in der brüderlichsten Ein-


und sich endlich zu einer solchen Potenz steigerte, daß man nie mehr
von Richard sprach, ohne bedeutungsvoll mit den Achseln zu zucken,
oder, je nach dem Alter, die Augen züchtig niederzuschlagen. Und
dennoch nicht die geringste Annäherung von seiner Seite, dennoch der¬
selbe kalte, gleichgültige Hohn, wie früher! Es war unausstehlich. Alle
Kunst war erschöpft. Und Richard sah nicht rechts und nicht links,
und wußte nichts von den böswilligen Klatschereien und hatte an
andere Dinge zu denken, und seine Gedanken waren wunderbarer
Art, mitunter glänzend und schön wie ein zuckender Blitz, mitunter
dumpf und erschütternd, wie der rollende Donner, und Donner und
Blitz wechselten so schnell, und die schwülen Gewitterwolken, die sich
über seiner Seele zusammengezogen hatten, waren so düster, daß er
das moralische Finger-« und Mienenspiel der Frau Bürgermeisterin
und Gefolge nicht bemerken konnte. Aber auch die wenigen Beweise
von wohlmeinender Theilnahme, die sich hier und da zeigten, gingen
spurlos an ihm vorüber. Verstohlen blickte ihm wohl ein junges
Mädchen nach, wenn er bei seinen täglichen Spaziergängen über die
Straße hineilte, und in ihrem Blicke hätte er deutlich die Worte le¬
sen können: „Wer ist der blasse, traurige Mann, der so allein in den
Wäldern umherstreift und so feine Wäsche trägt? — ob er mich wohl
bemerkt?" — Ach! nein, er bemerkt deine blühenden Wangen so we¬
nig, als deine lieben, theilnahmsvollen Augen, aber schaue ihm nur
nach, es gibt ja der Wohlmeinenden auf dieser Welt so wenige für
ihn.


II.

Es war ein heiterer Frühlingsabend, das glänzende Tagesgestirn
hatte seinen Lauf vollendet und zeichnete noch die höchsten Gipfel der
Berge mit purpurnen Tinten, milde Zephyre fächelten, von den Bäu¬
men herab schallten die Lieder der befiederten Sänger in wonnigen
Accorden, als der große Räuberhauptmann —- nein, nicht der große
Räuberhauptmann, sondern der friedfertige Richard einen einsamen
Bergpfad hinanstieg, um — er wußte selbst nicht, in welcher Absicht,
und das thut auch nichts zur Sache. Vom Städtchen herüber er¬
tönten die Abendglocken, welche die Natur und die arbeitsmüden Men¬
schen zur Ruhe läuteten. Als er den Gipfel erreicht hatte, setzte
er sich an dem Rande des Fichtenwaldes nieder und kramte in seiner
Brieftasche. Mit flüchtigem Blicke überflog er halbvollendete Gedichte
und zerstreut hingeworfene Gedanken, welche in der brüderlichsten Ein-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/300>, abgerufen am 27.11.2024.