Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.Die Gräfin, die nach den ersten Worten des Vorlesers eine selt¬ Zweiter Brief. Endlich, Quirin, endlich habe ich es gesehen. Es war um Mit¬ Vor Allem das Geschlechtswort, vor Allem! Ehe noch das Sub¬ Die Gräfin, die nach den ersten Worten des Vorlesers eine selt¬ Zweiter Brief. Endlich, Quirin, endlich habe ich es gesehen. Es war um Mit¬ Vor Allem das Geschlechtswort, vor Allem! Ehe noch das Sub¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0484" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/183505"/> <p xml:id="ID_1394"> Die Gräfin, die nach den ersten Worten des Vorlesers eine selt¬<lb/> same Unruhe gezeigt hatte, saß jetzt blasser als je mit geschlossenen<lb/> Augen da. — „In welcher Zeit," fragte ein schwarzgekleidetes buck-<lb/> ligtes Männlein, indeß sein Auge lauernd auf dem Gesichte des Vor¬<lb/> lesers haftete, „in welcher Zeit spielt denn die Geschichte?" — „In<lb/> jeder Zeit," antwortete dieser trocken und schickte sich an, weiter zu<lb/> lesen. — In diesem Augenblicke trat der Herr mit dem Ordensbande<lb/> um den Hals, der dem Inhalt der Vorlesung aufmerksam gefolgt war,<lb/> zu dem jungen Manne. „Ich ersuche Sie, nicht weiter zu lesen,"<lb/> flüsterte er ihm in's Ohr. — „Und weshalb nicht?" fragte dieser<lb/> etwas auffahrend. — „Ich ersuche Sie in Ihrem eigenen Interesse,<lb/> nicht weiter zu lesen," wiederholte jener streng. „Ich denke, mein<lb/> Herr," sagte der junge Mann, „ich werde thun, was mir gut dünkt." —<lb/> Der Herr mit dem Orden trat zurück. Der junge Mann rückte seine<lb/> Mappe näher an die Girandole und las:</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Zweiter Brief.</head><lb/> <p xml:id="ID_1395"> Endlich, Quirin, endlich habe ich es gesehen. Es war um Mit¬<lb/> ternacht. In der tiefen Höhlung meines Thurmes liegt es mit eher¬<lb/> nen Fesseln an den Fels gebunden; aber wenn Finsterniß die Welt in<lb/> stiller Nacht umzieht, da erhebt es den riesenhaften Schlangenleib, un¬<lb/> ermeßlich schwillt es empor, hoch über die Zinnen deS babylonischen<lb/> NimrodbaueS. Seine rothen Augenräder durchbrennen die Nacht;<lb/> sein scheußliches Gorgonenhaupt wendet es hohnlachend nach allen<lb/> vier Gegenden der Welt. Und wie es den Rachen zum wilden Schrei<lb/> öffnet, zischen zehn blutrothe Zungen daraps hervor, und auf jedem<lb/> ist mit brennender Schrift ein Wort eingegraben: Hauptwort, Ge¬<lb/> schlechtswort, Beiwort, Zahlwort, Fürwort, Zeitwort, Verhältnißwort,<lb/> Nebenwort, Bindewort, Empfindungswort. Und der Dampf, der aus<lb/> diesen Feuerzeichen strömt, verdichtet sich und schwebt zur Erde nieder<lb/> und betäubt der Menschen Sinn und verwirrt ihr Thun und Treiben.</p><lb/> <p xml:id="ID_1396" next="#ID_1397"> Vor Allem das Geschlechtswort, vor Allem! Ehe noch das Sub¬<lb/> ject zum Thore hereinfährt, fragt schon die Grammatik nach seinem<lb/> Paß. Muß nicht das Geschlechtswort überall dem Hauptworte vor¬<lb/> anreiten? Als Hebamme steht es bei der Geburt, und kaum daß die<lb/> kreisende Vernunft mit dem Begriff niederkommt, verkündet es, ob das<lb/> neugeborene Kindlein männlichen oder weiblichen Geschlechts ist. Die<lb/> armen Frauen! der schwerste Theil wird auf ihre Schultern gelegt:<lb/> die Tugend, die Dankbarkeit, und was das Grausamste ist, die Treue!</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0484]
Die Gräfin, die nach den ersten Worten des Vorlesers eine selt¬
same Unruhe gezeigt hatte, saß jetzt blasser als je mit geschlossenen
Augen da. — „In welcher Zeit," fragte ein schwarzgekleidetes buck-
ligtes Männlein, indeß sein Auge lauernd auf dem Gesichte des Vor¬
lesers haftete, „in welcher Zeit spielt denn die Geschichte?" — „In
jeder Zeit," antwortete dieser trocken und schickte sich an, weiter zu
lesen. — In diesem Augenblicke trat der Herr mit dem Ordensbande
um den Hals, der dem Inhalt der Vorlesung aufmerksam gefolgt war,
zu dem jungen Manne. „Ich ersuche Sie, nicht weiter zu lesen,"
flüsterte er ihm in's Ohr. — „Und weshalb nicht?" fragte dieser
etwas auffahrend. — „Ich ersuche Sie in Ihrem eigenen Interesse,
nicht weiter zu lesen," wiederholte jener streng. „Ich denke, mein
Herr," sagte der junge Mann, „ich werde thun, was mir gut dünkt." —
Der Herr mit dem Orden trat zurück. Der junge Mann rückte seine
Mappe näher an die Girandole und las:
Zweiter Brief.
Endlich, Quirin, endlich habe ich es gesehen. Es war um Mit¬
ternacht. In der tiefen Höhlung meines Thurmes liegt es mit eher¬
nen Fesseln an den Fels gebunden; aber wenn Finsterniß die Welt in
stiller Nacht umzieht, da erhebt es den riesenhaften Schlangenleib, un¬
ermeßlich schwillt es empor, hoch über die Zinnen deS babylonischen
NimrodbaueS. Seine rothen Augenräder durchbrennen die Nacht;
sein scheußliches Gorgonenhaupt wendet es hohnlachend nach allen
vier Gegenden der Welt. Und wie es den Rachen zum wilden Schrei
öffnet, zischen zehn blutrothe Zungen daraps hervor, und auf jedem
ist mit brennender Schrift ein Wort eingegraben: Hauptwort, Ge¬
schlechtswort, Beiwort, Zahlwort, Fürwort, Zeitwort, Verhältnißwort,
Nebenwort, Bindewort, Empfindungswort. Und der Dampf, der aus
diesen Feuerzeichen strömt, verdichtet sich und schwebt zur Erde nieder
und betäubt der Menschen Sinn und verwirrt ihr Thun und Treiben.
Vor Allem das Geschlechtswort, vor Allem! Ehe noch das Sub¬
ject zum Thore hereinfährt, fragt schon die Grammatik nach seinem
Paß. Muß nicht das Geschlechtswort überall dem Hauptworte vor¬
anreiten? Als Hebamme steht es bei der Geburt, und kaum daß die
kreisende Vernunft mit dem Begriff niederkommt, verkündet es, ob das
neugeborene Kindlein männlichen oder weiblichen Geschlechts ist. Die
armen Frauen! der schwerste Theil wird auf ihre Schultern gelegt:
die Tugend, die Dankbarkeit, und was das Grausamste ist, die Treue!
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