Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.T a g e b u es. i Das zimperliche Berlin Man hat Berlin seinen Hang zur Ironie, zum Spott, zum Zer¬ Wehe dem, der eine Cigarre im Munde hält! Der Fremde, der T a g e b u es. i Das zimperliche Berlin Man hat Berlin seinen Hang zur Ironie, zum Spott, zum Zer¬ Wehe dem, der eine Cigarre im Munde hält! Der Fremde, der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0042" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/183063"/> </div> <div n="1"> <head> T a g e b u es.</head><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div n="2"> <head> i<lb/> Das zimperliche Berlin</head><lb/> <p xml:id="ID_65"> Man hat Berlin seinen Hang zur Ironie, zum Spott, zum Zer¬<lb/> setzen, zur Verhöhnung alles Sentimentalen und Romantischen vorge¬<lb/> worfen, aber noch niemals hat man einen Aug dieser Stadt hervorge¬<lb/> hoben, der ganz in entgegengesetzter Art sündigt: die Zimperlichkeit. Dem<lb/> Franzosen, der in leichten, ungezwungenen Artigkeitsgesetzen erzogen ist,<lb/> dem Süddeutschen, der selbst in seinen höflichsten Stunden eine gewisse<lb/> viederbe, warme Autraulichkeit nicht ablegt, ist gleich beim ersten Eintre¬<lb/> ten in eine berliner Gesellschaft durch die porzellanene Höflichkeit, durch<lb/> die steiflederne Umständlichkeit frappirt. Welche spanische Etiquette, den<lb/> Damen gegenüber, welche spanischen Wände, die für die Sittlichkeit ganz<lb/> unnöthig sind und doch aile rasche Eonversation und heitere Geselligkeit<lb/> auseinander halten. Tritt man in eine Restauration, in ein Cas«, welche<lb/> Sabbathstille, man möchte sich in einem Betsaale glauben, worin höch¬<lb/> stens die Gebetbücher durch Teller und Tassen ersetzt sind. Durchstreift<lb/> man die herrlichen, weitgedehnten Straßen, so fragt man sich unwill¬<lb/> kürlich: hat der Kalender mich getäuscht und ist heute ein Festtag, den<lb/> er nicht angezeigt? Ist diese lautlose Stadt wirklich von 40(t,VVV Ein¬<lb/> wohnern bewohnt? In den entlegenen Straßen von Paris, Wien, Am¬<lb/> sterdam und Brüssel ist mehr Geräusch und lautes Leben, als unter den<lb/> Linden und in der Friedrichsstraße. Die preußische Residenz macht den<lb/> Eindruck eines großen königlichen Parks, den der Besitzer aus Gnade<lb/> dem Publicum geöffnet, in welchem es aber nicht einen Augenblick ver¬<lb/> gessen werden darf, daß hier ein Königssitz ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_66" next="#ID_67"> Wehe dem, der eine Cigarre im Munde hält! Der Fremde, der<lb/> ungewohnt dieses unmotivirten Rauchzwangs hierher kommt, kann auf<lb/> sein Reisebudget getrost 3l)—40 Thaler mehr stellen für die Strafe, die<lb/> er im ersten Monat zu zahlen haben wird, weil er das Rauchverbot ver¬<lb/> geßlicher Weise verletzt. Dieser Vernichtungskrieg gegen den unschuldigen<lb/> Glimmstengel, auf welchen die Gensdarmen (bisweilen sogar auch nicht<lb/> uniformirte höhere Beamten, denen man, äußerlich wenigstens, den Gens-<lb/> varm nicht ansieht) mit besonderer Passion Jagd machen, ist eine Frucht<lb/> jener Zimperlichkeit. Auch Paris, London, Wien, Brüssel schmeicheln</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0042]
T a g e b u es.
i
Das zimperliche Berlin
Man hat Berlin seinen Hang zur Ironie, zum Spott, zum Zer¬
setzen, zur Verhöhnung alles Sentimentalen und Romantischen vorge¬
worfen, aber noch niemals hat man einen Aug dieser Stadt hervorge¬
hoben, der ganz in entgegengesetzter Art sündigt: die Zimperlichkeit. Dem
Franzosen, der in leichten, ungezwungenen Artigkeitsgesetzen erzogen ist,
dem Süddeutschen, der selbst in seinen höflichsten Stunden eine gewisse
viederbe, warme Autraulichkeit nicht ablegt, ist gleich beim ersten Eintre¬
ten in eine berliner Gesellschaft durch die porzellanene Höflichkeit, durch
die steiflederne Umständlichkeit frappirt. Welche spanische Etiquette, den
Damen gegenüber, welche spanischen Wände, die für die Sittlichkeit ganz
unnöthig sind und doch aile rasche Eonversation und heitere Geselligkeit
auseinander halten. Tritt man in eine Restauration, in ein Cas«, welche
Sabbathstille, man möchte sich in einem Betsaale glauben, worin höch¬
stens die Gebetbücher durch Teller und Tassen ersetzt sind. Durchstreift
man die herrlichen, weitgedehnten Straßen, so fragt man sich unwill¬
kürlich: hat der Kalender mich getäuscht und ist heute ein Festtag, den
er nicht angezeigt? Ist diese lautlose Stadt wirklich von 40(t,VVV Ein¬
wohnern bewohnt? In den entlegenen Straßen von Paris, Wien, Am¬
sterdam und Brüssel ist mehr Geräusch und lautes Leben, als unter den
Linden und in der Friedrichsstraße. Die preußische Residenz macht den
Eindruck eines großen königlichen Parks, den der Besitzer aus Gnade
dem Publicum geöffnet, in welchem es aber nicht einen Augenblick ver¬
gessen werden darf, daß hier ein Königssitz ist.
Wehe dem, der eine Cigarre im Munde hält! Der Fremde, der
ungewohnt dieses unmotivirten Rauchzwangs hierher kommt, kann auf
sein Reisebudget getrost 3l)—40 Thaler mehr stellen für die Strafe, die
er im ersten Monat zu zahlen haben wird, weil er das Rauchverbot ver¬
geßlicher Weise verletzt. Dieser Vernichtungskrieg gegen den unschuldigen
Glimmstengel, auf welchen die Gensdarmen (bisweilen sogar auch nicht
uniformirte höhere Beamten, denen man, äußerlich wenigstens, den Gens-
varm nicht ansieht) mit besonderer Passion Jagd machen, ist eine Frucht
jener Zimperlichkeit. Auch Paris, London, Wien, Brüssel schmeicheln
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