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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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V.
N o t.i z e n.
Selbstmörder und Königsmörder.

Ein geistreicher Arzt, Prof. Kasper, hat in einem unlängst erschie¬
nenen Buche nachzuweisen gesucht, daß der Glaube, es wohne manchem
Menschen eine besondere Feuerlust, ein besonderer Brandanstiftungstrieb
(Pvromanie) inne, ein wahrer Gespensterglaube sei. Er erzählt aus
seiner langen Praxis eine Menge von Fällen aus, in denen die Brand¬
stifter immer durch ein persönliches Motiv, nicht aber durch eine Mono¬
manie zu ihrem Verbrechen getrieben worden waren. An diesen Aufsatz
erinnerte ich mich, als dieser Tage die Nachricht von dem neuen wahn¬
sinnigen Attentate gegen Louis Philipp anlangte. Der Zufall wollte,
daß an demselben Tage die Berliner Stadtchronik wieder von einem jun¬
gen Madchen erzählte, welches sich auf der Potsdamer Eisenbahn unter
die Räder der Locomotive stürzte, um sein Leben zu enden. Seit weni¬
gen Wochen ist dies der zehnte Selbstmord dieser Art, so wie innerhalb
von zwei Monaten das zweite Attentat gegen Louis Philipp stattfand.
Dieses Zusammentreffen frappirte mich. Wie kommt es, daß in Paris,
die Idee auf den Konig zu schießen, sich so oft aus den verschieden¬
sten Motiven wiederholt? Wäre es blos politisches Motiv, so ließe steh's
erklaren, allein der Eine will eine Privatrache ausüben und wählt statt
MontcUivet den König sich aus, der Andere will zum Tode verurtheilt
werden und weiß kein besseres Mittel als sein Pistol nach dem König
zu richten? Und ebenso könnte man fragen, warum in einer und dersel¬
ben Stadt eine Reihe von Selbstmördern grade eine und dieselbe Todes¬
art sich wählen, die schauderhafteste von allen? Sollte es nicht kranke
Ideen geben, die ebenso ansteckend sind wie Nervenfieber und Masern?
Ich glaube, grade das Schauderhafte der That entflammt, reizt und
peitscht die Phantasie auf, und wenn einmal eine solche fieberhafte Idee
sich irgendwo festgesetzt hat, und wenn die Erzählung davon die Gemü¬
ther von Tausenden aufregt, so setzt sich ihr Miasma leicht in irgend
einer krankhaften, reizbaren Einbildungskraft fest und kämpft und bohrt
so lange, bis das Individuum grade durch den Widerspruch, den ihm
seine Vernunft macht, zur Leidenschaft, zum Delirium getrieben wird.--
So begreifen wir auch den Trieb des Brandstifters, der das furchtbare
Schauspiel der auflodernden Flamme wochenlang vorher im Geiste sieht.
So begreifen wir den Königsmörder, der die ungeheuren Folgen, die tu-
multuarischen Massen, das feierliche Pairsgerichr wie ein Visionär mit sich
herumträgt, so begreifen wir endlich das arme Mädchen, auf die der
feuersprühende, riesige Dampfer eine dämonische Anziehungskraft aus¬
übt. Dieser Dämon, der eine erhitzte Phantasie grade zu dem Gräßlich¬
sten am allerersten treibt, ist eines der dunkelsten Räthsel der menschli¬
chen Seele.




Verlag von Fr. Ludw. Herdig. -- Redacteur I. Kuvandi.
Druck von Friedrich Andrö.
V.
N o t.i z e n.
Selbstmörder und Königsmörder.

Ein geistreicher Arzt, Prof. Kasper, hat in einem unlängst erschie¬
nenen Buche nachzuweisen gesucht, daß der Glaube, es wohne manchem
Menschen eine besondere Feuerlust, ein besonderer Brandanstiftungstrieb
(Pvromanie) inne, ein wahrer Gespensterglaube sei. Er erzählt aus
seiner langen Praxis eine Menge von Fällen aus, in denen die Brand¬
stifter immer durch ein persönliches Motiv, nicht aber durch eine Mono¬
manie zu ihrem Verbrechen getrieben worden waren. An diesen Aufsatz
erinnerte ich mich, als dieser Tage die Nachricht von dem neuen wahn¬
sinnigen Attentate gegen Louis Philipp anlangte. Der Zufall wollte,
daß an demselben Tage die Berliner Stadtchronik wieder von einem jun¬
gen Madchen erzählte, welches sich auf der Potsdamer Eisenbahn unter
die Räder der Locomotive stürzte, um sein Leben zu enden. Seit weni¬
gen Wochen ist dies der zehnte Selbstmord dieser Art, so wie innerhalb
von zwei Monaten das zweite Attentat gegen Louis Philipp stattfand.
Dieses Zusammentreffen frappirte mich. Wie kommt es, daß in Paris,
die Idee auf den Konig zu schießen, sich so oft aus den verschieden¬
sten Motiven wiederholt? Wäre es blos politisches Motiv, so ließe steh's
erklaren, allein der Eine will eine Privatrache ausüben und wählt statt
MontcUivet den König sich aus, der Andere will zum Tode verurtheilt
werden und weiß kein besseres Mittel als sein Pistol nach dem König
zu richten? Und ebenso könnte man fragen, warum in einer und dersel¬
ben Stadt eine Reihe von Selbstmördern grade eine und dieselbe Todes¬
art sich wählen, die schauderhafteste von allen? Sollte es nicht kranke
Ideen geben, die ebenso ansteckend sind wie Nervenfieber und Masern?
Ich glaube, grade das Schauderhafte der That entflammt, reizt und
peitscht die Phantasie auf, und wenn einmal eine solche fieberhafte Idee
sich irgendwo festgesetzt hat, und wenn die Erzählung davon die Gemü¬
ther von Tausenden aufregt, so setzt sich ihr Miasma leicht in irgend
einer krankhaften, reizbaren Einbildungskraft fest und kämpft und bohrt
so lange, bis das Individuum grade durch den Widerspruch, den ihm
seine Vernunft macht, zur Leidenschaft, zum Delirium getrieben wird.—
So begreifen wir auch den Trieb des Brandstifters, der das furchtbare
Schauspiel der auflodernden Flamme wochenlang vorher im Geiste sieht.
So begreifen wir den Königsmörder, der die ungeheuren Folgen, die tu-
multuarischen Massen, das feierliche Pairsgerichr wie ein Visionär mit sich
herumträgt, so begreifen wir endlich das arme Mädchen, auf die der
feuersprühende, riesige Dampfer eine dämonische Anziehungskraft aus¬
übt. Dieser Dämon, der eine erhitzte Phantasie grade zu dem Gräßlich¬
sten am allerersten treibt, ist eines der dunkelsten Räthsel der menschli¬
chen Seele.




Verlag von Fr. Ludw. Herdig. — Redacteur I. Kuvandi.
Druck von Friedrich Andrö.
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[0324] V. N o t.i z e n. Selbstmörder und Königsmörder. Ein geistreicher Arzt, Prof. Kasper, hat in einem unlängst erschie¬ nenen Buche nachzuweisen gesucht, daß der Glaube, es wohne manchem Menschen eine besondere Feuerlust, ein besonderer Brandanstiftungstrieb (Pvromanie) inne, ein wahrer Gespensterglaube sei. Er erzählt aus seiner langen Praxis eine Menge von Fällen aus, in denen die Brand¬ stifter immer durch ein persönliches Motiv, nicht aber durch eine Mono¬ manie zu ihrem Verbrechen getrieben worden waren. An diesen Aufsatz erinnerte ich mich, als dieser Tage die Nachricht von dem neuen wahn¬ sinnigen Attentate gegen Louis Philipp anlangte. Der Zufall wollte, daß an demselben Tage die Berliner Stadtchronik wieder von einem jun¬ gen Madchen erzählte, welches sich auf der Potsdamer Eisenbahn unter die Räder der Locomotive stürzte, um sein Leben zu enden. Seit weni¬ gen Wochen ist dies der zehnte Selbstmord dieser Art, so wie innerhalb von zwei Monaten das zweite Attentat gegen Louis Philipp stattfand. Dieses Zusammentreffen frappirte mich. Wie kommt es, daß in Paris, die Idee auf den Konig zu schießen, sich so oft aus den verschieden¬ sten Motiven wiederholt? Wäre es blos politisches Motiv, so ließe steh's erklaren, allein der Eine will eine Privatrache ausüben und wählt statt MontcUivet den König sich aus, der Andere will zum Tode verurtheilt werden und weiß kein besseres Mittel als sein Pistol nach dem König zu richten? Und ebenso könnte man fragen, warum in einer und dersel¬ ben Stadt eine Reihe von Selbstmördern grade eine und dieselbe Todes¬ art sich wählen, die schauderhafteste von allen? Sollte es nicht kranke Ideen geben, die ebenso ansteckend sind wie Nervenfieber und Masern? Ich glaube, grade das Schauderhafte der That entflammt, reizt und peitscht die Phantasie auf, und wenn einmal eine solche fieberhafte Idee sich irgendwo festgesetzt hat, und wenn die Erzählung davon die Gemü¬ ther von Tausenden aufregt, so setzt sich ihr Miasma leicht in irgend einer krankhaften, reizbaren Einbildungskraft fest und kämpft und bohrt so lange, bis das Individuum grade durch den Widerspruch, den ihm seine Vernunft macht, zur Leidenschaft, zum Delirium getrieben wird.— So begreifen wir auch den Trieb des Brandstifters, der das furchtbare Schauspiel der auflodernden Flamme wochenlang vorher im Geiste sieht. So begreifen wir den Königsmörder, der die ungeheuren Folgen, die tu- multuarischen Massen, das feierliche Pairsgerichr wie ein Visionär mit sich herumträgt, so begreifen wir endlich das arme Mädchen, auf die der feuersprühende, riesige Dampfer eine dämonische Anziehungskraft aus¬ übt. Dieser Dämon, der eine erhitzte Phantasie grade zu dem Gräßlich¬ sten am allerersten treibt, ist eines der dunkelsten Räthsel der menschli¬ chen Seele. Verlag von Fr. Ludw. Herdig. — Redacteur I. Kuvandi. Druck von Friedrich Andrö.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/324>, abgerufen am 04.07.2024.