Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.Notizen. Russische Berichtigungen. -- Aus dem Kirckcnstaatc. -- Literarische Hoheiten. -- Die Kommasrage. -- Die "Jahreszeiten". -- Schweizer Wirren; Bluntschli. -- Wir möchten fast um Entschuldigung bitten, daß wir noch Der Feldzug des bekannten französischen Marquis gegen Rußland Notizen. Russische Berichtigungen. — Aus dem Kirckcnstaatc. — Literarische Hoheiten. — Die Kommasrage. — Die „Jahreszeiten". — Schweizer Wirren; Bluntschli. — Wir möchten fast um Entschuldigung bitten, daß wir noch Der Feldzug des bekannten französischen Marquis gegen Rußland <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0736" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/180449"/> </div> <div n="2"> <head> Notizen.</head><lb/> <note type="argument"> Russische Berichtigungen. — Aus dem Kirckcnstaatc. — Literarische Hoheiten. —<lb/> Die Kommasrage. — Die „Jahreszeiten". — Schweizer Wirren; Bluntschli.</note><lb/> <p xml:id="ID_1905"> — Wir möchten fast um Entschuldigung bitten, daß wir noch<lb/> einmal auf den vielbesprochenen Custine zurückkommen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1906" next="#ID_1907"> Der Feldzug des bekannten französischen Marquis gegen Rußland<lb/> hat mit keinem Moskaubrand und keiner Berezina geendet; dennoch,<lb/> obwohl die Widerlegungen, Berichtigungen und Vertheidigungen seit<lb/> bald einem Jahre dauern , ist der Sieg in Vieler Augen noch nicht<lb/> entschieden. Deutschland konnte sich bei diesem Kampfe nicht ganz<lb/> neutral halten; aber während eine Minderzahl die Schilderungen Cu-<lb/> stine's mit Heißhunger verschlang und von der Wahrhaftigkeit dersel¬<lb/> ben moralisch überzeugt war, konnten sich die Andern, aus ehrenwer-<lb/> then Motiven, nicht entschließen, die Allianz des wenig besonnenen,<lb/> allzu pikanten welschen Marquis anzunehmen. Wir brauchen nicht<lb/> die französische Brille, sagten sie, ein deutsches Auge hätte schärfer<lb/> und doch gerechter gesehen und würde eben dadurch siegreicher richten.<lb/> Hinter den edelsten deutschen Vorsätzen steckt immer ein Wenn!<lb/> Hätte und Würde! Bei den immer wichtiger werdenden Beziehungen<lb/> zu dem Slavenreich ist eine genaue und erschöpfende Kenntniß dessel¬<lb/> ben nicht blos wünschenswerth, sondern höchst nothwendig. Man kann<lb/> also fragen: Warum richtet denn das deutsche Auge nicht? Nun<lb/> Treumund Welp's Berichte, die, so schlicht sie auftreten,'im We¬<lb/> sentlichen mit Custine übereinstimmen, wollen auch nicht munden;<lb/> Welp ist zu sehr Mann aus dem Volk, zu praktisch und hausbacken,<lb/> zu wenig gelehrt, zu ungründlich! Kohl, der wegen seiner harmlo¬<lb/> sen Anständigkeit und liebenswürdigen Virtuosität im Erzählen nicht<lb/> angefochten wird, hat wenigstens eben so viel Irrthümer begangen<lb/> wie Custine. Unsere reisenden Naturforscher sind sehr gründlich, aber<lb/> sie werfen nur gelegentlich einen Seitenblick auf das, was uns das<lb/> Wichtigste sein muß. Die vortrefflichen Schilderungen eines offenbar<lb/> hochgebildeten und gewiegten Reisenden aus Rußland und dem Kau¬<lb/> kasus (in der Augsburger Allgemeinen Zeitung) erfahren aus Se. Pe¬<lb/> tersburg eben so schnöde und zuversichtliche Abfertigungen wie Custine.<lb/> Göhring's „Warschau, eine russische Hauptstadt" ist reich an au¬<lb/> thentischen Thatsachen, dürfte aber dasselbe Schicksal haben. Und die<lb/> deutsche Gewissenhaftigkeit dürfte am Ende nicht eher ein Buch über<lb/> Rußland für gerecht halten, als bis die Russen selbst es für gut er¬<lb/> klären. Wir kommen also immer wieder auf Custine zurück. Was<lb/> die heftigen Debatten für und wider ihn betrifft, so liegt wohl die<lb/> Wahrheit — nicht in der Mitte, aber auf beiden Seiten; sein Buch</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0736]
Notizen.
Russische Berichtigungen. — Aus dem Kirckcnstaatc. — Literarische Hoheiten. —
Die Kommasrage. — Die „Jahreszeiten". — Schweizer Wirren; Bluntschli.
— Wir möchten fast um Entschuldigung bitten, daß wir noch
einmal auf den vielbesprochenen Custine zurückkommen.
Der Feldzug des bekannten französischen Marquis gegen Rußland
hat mit keinem Moskaubrand und keiner Berezina geendet; dennoch,
obwohl die Widerlegungen, Berichtigungen und Vertheidigungen seit
bald einem Jahre dauern , ist der Sieg in Vieler Augen noch nicht
entschieden. Deutschland konnte sich bei diesem Kampfe nicht ganz
neutral halten; aber während eine Minderzahl die Schilderungen Cu-
stine's mit Heißhunger verschlang und von der Wahrhaftigkeit dersel¬
ben moralisch überzeugt war, konnten sich die Andern, aus ehrenwer-
then Motiven, nicht entschließen, die Allianz des wenig besonnenen,
allzu pikanten welschen Marquis anzunehmen. Wir brauchen nicht
die französische Brille, sagten sie, ein deutsches Auge hätte schärfer
und doch gerechter gesehen und würde eben dadurch siegreicher richten.
Hinter den edelsten deutschen Vorsätzen steckt immer ein Wenn!
Hätte und Würde! Bei den immer wichtiger werdenden Beziehungen
zu dem Slavenreich ist eine genaue und erschöpfende Kenntniß dessel¬
ben nicht blos wünschenswerth, sondern höchst nothwendig. Man kann
also fragen: Warum richtet denn das deutsche Auge nicht? Nun
Treumund Welp's Berichte, die, so schlicht sie auftreten,'im We¬
sentlichen mit Custine übereinstimmen, wollen auch nicht munden;
Welp ist zu sehr Mann aus dem Volk, zu praktisch und hausbacken,
zu wenig gelehrt, zu ungründlich! Kohl, der wegen seiner harmlo¬
sen Anständigkeit und liebenswürdigen Virtuosität im Erzählen nicht
angefochten wird, hat wenigstens eben so viel Irrthümer begangen
wie Custine. Unsere reisenden Naturforscher sind sehr gründlich, aber
sie werfen nur gelegentlich einen Seitenblick auf das, was uns das
Wichtigste sein muß. Die vortrefflichen Schilderungen eines offenbar
hochgebildeten und gewiegten Reisenden aus Rußland und dem Kau¬
kasus (in der Augsburger Allgemeinen Zeitung) erfahren aus Se. Pe¬
tersburg eben so schnöde und zuversichtliche Abfertigungen wie Custine.
Göhring's „Warschau, eine russische Hauptstadt" ist reich an au¬
thentischen Thatsachen, dürfte aber dasselbe Schicksal haben. Und die
deutsche Gewissenhaftigkeit dürfte am Ende nicht eher ein Buch über
Rußland für gerecht halten, als bis die Russen selbst es für gut er¬
klären. Wir kommen also immer wieder auf Custine zurück. Was
die heftigen Debatten für und wider ihn betrifft, so liegt wohl die
Wahrheit — nicht in der Mitte, aber auf beiden Seiten; sein Buch
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