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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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i.
Briefe aus Leipzig.

Universität -- Fremd- Journale. -- Buchhändler und Schriftsteller. -- Liberalismus. --
Schilling. -- Religion und materielle Hoffnungen.

Es gehört ein Entschluß dazu, über das heutige Leipzig ein Wort zu sagen.
Leipzig ist kein Kleinparis und kein Neubabvlon; es ist vielzu gescheidt, um Thürme
gen Himmel zu bauen. Leipzig ist ein Ameisenhaufen und weniger durch die gro߬
artigen Resultate, als durch die ganze Art und Weise seiner Thätigkeit von Be¬
deutung. Kunst, Literatur, Politik sind hier im Schwunge, doch eigentlich nur als
Gegenstände der Industrie. Die Musik macht allenfalls eine Ausnahme, obwohl
auch darin die producirenden Talente dünn gesäet sind. -- Die hiesigen Kunstan¬
stalten, Gemäldesammlungen ze., find sie einer so anspruchsvollen Stadt wie Leipzig
würdig? Nein, aber sie gehören Kaufleuten. Leipzig ist vielleicht auch darin mo¬
dern, daß es ein mittelmäßiges Theater besitzt, welches von der lauen Theilnahme
des Publikums wie ein herkömmliches Uebel erhalten wird. -- Die Universität ge¬
hört zu den besuchtesten Deutschlands, aber die lieben S00-1M0 Musensöhne sind
meist Brodstudenten. Das ideale Burschenthum kam hier nie zur rechten Blüthe,
und selbst die halb geduldeten Landsmannschaften fristen ihr harmlos bebändertes
Dasein kümmerlich fort. Noch bezeichnender ist, daß es hier einen geistreichen Pro¬
fessor der Philosophie giebt, der gegen alle Philosophie offen polemiflrt. -- Auch
nicht die litcrcirische, sondern die typographische und buchhändlerische Thätigkeit die¬
ser Stadt ist außerordentlich. Viele auswärts redigirte Journale, z. B. der Pilot,
die Abendzeitung, der Freihafen, die wackern sächsischen Vaterlandsblätter, die deut¬
schen Jahrbücher :c. werden hier gedruckt und verlegt. In ganzen Kameelladungen
Wandern aus Norddeutschland und zum Theil aus Oesterreich die Manuscripte her,
um bei einer leipziger Firma unter die Haube zu kommen und den Ehesegen der
toleranten sächsischen Censur zu erhalten. Leipzig erzeugt eine Unzahl von Magi¬
stern, welche vortreffliche Correctoren abgeben und viel zum Nuhm der hiesigen Li¬
teratur beitragen; sie interpungiren besser, als die modernen Lyriker und corrigiren


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Tagebuch»



i.
Briefe aus Leipzig.

Universität — Fremd- Journale. — Buchhändler und Schriftsteller. — Liberalismus. —
Schilling. — Religion und materielle Hoffnungen.

Es gehört ein Entschluß dazu, über das heutige Leipzig ein Wort zu sagen.
Leipzig ist kein Kleinparis und kein Neubabvlon; es ist vielzu gescheidt, um Thürme
gen Himmel zu bauen. Leipzig ist ein Ameisenhaufen und weniger durch die gro߬
artigen Resultate, als durch die ganze Art und Weise seiner Thätigkeit von Be¬
deutung. Kunst, Literatur, Politik sind hier im Schwunge, doch eigentlich nur als
Gegenstände der Industrie. Die Musik macht allenfalls eine Ausnahme, obwohl
auch darin die producirenden Talente dünn gesäet sind. — Die hiesigen Kunstan¬
stalten, Gemäldesammlungen ze., find sie einer so anspruchsvollen Stadt wie Leipzig
würdig? Nein, aber sie gehören Kaufleuten. Leipzig ist vielleicht auch darin mo¬
dern, daß es ein mittelmäßiges Theater besitzt, welches von der lauen Theilnahme
des Publikums wie ein herkömmliches Uebel erhalten wird. — Die Universität ge¬
hört zu den besuchtesten Deutschlands, aber die lieben S00-1M0 Musensöhne sind
meist Brodstudenten. Das ideale Burschenthum kam hier nie zur rechten Blüthe,
und selbst die halb geduldeten Landsmannschaften fristen ihr harmlos bebändertes
Dasein kümmerlich fort. Noch bezeichnender ist, daß es hier einen geistreichen Pro¬
fessor der Philosophie giebt, der gegen alle Philosophie offen polemiflrt. — Auch
nicht die litcrcirische, sondern die typographische und buchhändlerische Thätigkeit die¬
ser Stadt ist außerordentlich. Viele auswärts redigirte Journale, z. B. der Pilot,
die Abendzeitung, der Freihafen, die wackern sächsischen Vaterlandsblätter, die deut¬
schen Jahrbücher :c. werden hier gedruckt und verlegt. In ganzen Kameelladungen
Wandern aus Norddeutschland und zum Theil aus Oesterreich die Manuscripte her,
um bei einer leipziger Firma unter die Haube zu kommen und den Ehesegen der
toleranten sächsischen Censur zu erhalten. Leipzig erzeugt eine Unzahl von Magi¬
stern, welche vortreffliche Correctoren abgeben und viel zum Nuhm der hiesigen Li¬
teratur beitragen; sie interpungiren besser, als die modernen Lyriker und corrigiren


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[0449] Tagebuch» i. Briefe aus Leipzig. Universität — Fremd- Journale. — Buchhändler und Schriftsteller. — Liberalismus. — Schilling. — Religion und materielle Hoffnungen. Es gehört ein Entschluß dazu, über das heutige Leipzig ein Wort zu sagen. Leipzig ist kein Kleinparis und kein Neubabvlon; es ist vielzu gescheidt, um Thürme gen Himmel zu bauen. Leipzig ist ein Ameisenhaufen und weniger durch die gro߬ artigen Resultate, als durch die ganze Art und Weise seiner Thätigkeit von Be¬ deutung. Kunst, Literatur, Politik sind hier im Schwunge, doch eigentlich nur als Gegenstände der Industrie. Die Musik macht allenfalls eine Ausnahme, obwohl auch darin die producirenden Talente dünn gesäet sind. — Die hiesigen Kunstan¬ stalten, Gemäldesammlungen ze., find sie einer so anspruchsvollen Stadt wie Leipzig würdig? Nein, aber sie gehören Kaufleuten. Leipzig ist vielleicht auch darin mo¬ dern, daß es ein mittelmäßiges Theater besitzt, welches von der lauen Theilnahme des Publikums wie ein herkömmliches Uebel erhalten wird. — Die Universität ge¬ hört zu den besuchtesten Deutschlands, aber die lieben S00-1M0 Musensöhne sind meist Brodstudenten. Das ideale Burschenthum kam hier nie zur rechten Blüthe, und selbst die halb geduldeten Landsmannschaften fristen ihr harmlos bebändertes Dasein kümmerlich fort. Noch bezeichnender ist, daß es hier einen geistreichen Pro¬ fessor der Philosophie giebt, der gegen alle Philosophie offen polemiflrt. — Auch nicht die litcrcirische, sondern die typographische und buchhändlerische Thätigkeit die¬ ser Stadt ist außerordentlich. Viele auswärts redigirte Journale, z. B. der Pilot, die Abendzeitung, der Freihafen, die wackern sächsischen Vaterlandsblätter, die deut¬ schen Jahrbücher :c. werden hier gedruckt und verlegt. In ganzen Kameelladungen Wandern aus Norddeutschland und zum Theil aus Oesterreich die Manuscripte her, um bei einer leipziger Firma unter die Haube zu kommen und den Ehesegen der toleranten sächsischen Censur zu erhalten. Leipzig erzeugt eine Unzahl von Magi¬ stern, welche vortreffliche Correctoren abgeben und viel zum Nuhm der hiesigen Li¬ teratur beitragen; sie interpungiren besser, als die modernen Lyriker und corrigiren 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/449>, abgerufen am 22.07.2024.