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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Tragödien oder Trauerspielen.
lichkeit hervor gethan: Dort aber läst nicht nur der itzige Di-
rector, Herr Neuber sich äusserst angelegen seyn, die deutsche
Schau-Bühne auf den Fuß der alten Griechischen und neuen
Frantzösischen zu setzen: sondern seine Ehegattin, eine gebohr-
ne Weissenbornin, hat sich in allen möglichen Rollen, so zu spie-
len vorkommen können, so viel Beyfall durch ihre Action er-
worben; daß es ihr schwerlich ein Frauenzimmer zuvor thun
wird. Jch übergehe wie sich Hr. Kohlhard, Hr. Lorentz und
sonderlich Hr. Koch itzo in den stärcksten Partien gewie-
sen haben.

Schlüßlich muß ich erinnern, daß die Auftritte oder
Scenen in einer Handlung allezeit mit einander verbunden
seyn müssen: damit die Bühne nicht eher gantz ledig werde,
bis die gantze Handlung aus ist. Es muß also aus der vori-
gen Scene immer eine Person da bleiben, wenn eine neue
kommt, oder eine abgeht: damit die gantze Handlung einen
Zusammenhang habe. Die Alten sowohl, als Corneille und
Racine haben dieses fleißig beobachtet: aber in unsern deut-
schen Stücken geht es gemeiniglich sehr bunt durcheinander;
und daher kommt es grossentheils, daß die Fabeln nicht recht
zusammen hängen. Das sagt Boileau

Que l' action marchant ou la Raison la guide,
Ne se perde jamais, dans une Scene vuide.

Und soviel mag auch von der Tragödie genug seyn. Wer
mehr wissen will, muß die hin und her angeführten Scriben-
ten, sonderlich auch die Vorreden lesen, so Corneille und Ra-
cine vor ihre Stücke gesetzt haben.



Das eilfte Capitel.
Von Comödien oder Lust-Spielen.

DJe Comödie ist wenigstens dem Nahmen nach jünger
als das Trauer-Spiel: denn in der That waren sie
vor alters einerley; da man noch dem Bachus zu
Ehren die schimpflichsten Lieder an Fest-Tagen zu singen pfleg-

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Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen.
lichkeit hervor gethan: Dort aber laͤſt nicht nur der itzige Di-
rector, Herr Neuber ſich aͤuſſerſt angelegen ſeyn, die deutſche
Schau-Buͤhne auf den Fuß der alten Griechiſchen und neuen
Frantzoͤſiſchen zu ſetzen: ſondern ſeine Ehegattin, eine gebohr-
ne Weiſſenbornin, hat ſich in allen moͤglichen Rollen, ſo zu ſpie-
len vorkommen koͤnnen, ſo viel Beyfall durch ihre Action er-
worben; daß es ihr ſchwerlich ein Frauenzimmer zuvor thun
wird. Jch uͤbergehe wie ſich Hr. Kohlhard, Hr. Lorentz und
ſonderlich Hr. Koch itzo in den ſtaͤrckſten Partien gewie-
ſen haben.

Schluͤßlich muß ich erinnern, daß die Auftritte oder
Scenen in einer Handlung allezeit mit einander verbunden
ſeyn muͤſſen: damit die Buͤhne nicht eher gantz ledig werde,
bis die gantze Handlung aus iſt. Es muß alſo aus der vori-
gen Scene immer eine Perſon da bleiben, wenn eine neue
kommt, oder eine abgeht: damit die gantze Handlung einen
Zuſammenhang habe. Die Alten ſowohl, als Corneille und
Racine haben dieſes fleißig beobachtet: aber in unſern deut-
ſchen Stuͤcken geht es gemeiniglich ſehr bunt durcheinander;
und daher kommt es groſſentheils, daß die Fabeln nicht recht
zuſammen haͤngen. Das ſagt Boileau

Que l’ action marchant ou la Raiſon la guide,
Ne ſe perde jamais, dans une Scene vuide.

Und ſoviel mag auch von der Tragoͤdie genug ſeyn. Wer
mehr wiſſen will, muß die hin und her angefuͤhrten Scriben-
ten, ſonderlich auch die Vorreden leſen, ſo Corneille und Ra-
cine vor ihre Stuͤcke geſetzt haben.



Das eilfte Capitel.
Von Comoͤdien oder Luſt-Spielen.

DJe Comoͤdie iſt wenigſtens dem Nahmen nach juͤnger
als das Trauer-Spiel: denn in der That waren ſie
vor alters einerley; da man noch dem Bachus zu
Ehren die ſchimpflichſten Lieder an Feſt-Tagen zu ſingen pfleg-

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[585/0613] Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen. lichkeit hervor gethan: Dort aber laͤſt nicht nur der itzige Di- rector, Herr Neuber ſich aͤuſſerſt angelegen ſeyn, die deutſche Schau-Buͤhne auf den Fuß der alten Griechiſchen und neuen Frantzoͤſiſchen zu ſetzen: ſondern ſeine Ehegattin, eine gebohr- ne Weiſſenbornin, hat ſich in allen moͤglichen Rollen, ſo zu ſpie- len vorkommen koͤnnen, ſo viel Beyfall durch ihre Action er- worben; daß es ihr ſchwerlich ein Frauenzimmer zuvor thun wird. Jch uͤbergehe wie ſich Hr. Kohlhard, Hr. Lorentz und ſonderlich Hr. Koch itzo in den ſtaͤrckſten Partien gewie- ſen haben. Schluͤßlich muß ich erinnern, daß die Auftritte oder Scenen in einer Handlung allezeit mit einander verbunden ſeyn muͤſſen: damit die Buͤhne nicht eher gantz ledig werde, bis die gantze Handlung aus iſt. Es muß alſo aus der vori- gen Scene immer eine Perſon da bleiben, wenn eine neue kommt, oder eine abgeht: damit die gantze Handlung einen Zuſammenhang habe. Die Alten ſowohl, als Corneille und Racine haben dieſes fleißig beobachtet: aber in unſern deut- ſchen Stuͤcken geht es gemeiniglich ſehr bunt durcheinander; und daher kommt es groſſentheils, daß die Fabeln nicht recht zuſammen haͤngen. Das ſagt Boileau Que l’ action marchant ou la Raiſon la guide, Ne ſe perde jamais, dans une Scene vuide. Und ſoviel mag auch von der Tragoͤdie genug ſeyn. Wer mehr wiſſen will, muß die hin und her angefuͤhrten Scriben- ten, ſonderlich auch die Vorreden leſen, ſo Corneille und Ra- cine vor ihre Stuͤcke geſetzt haben. Das eilfte Capitel. Von Comoͤdien oder Luſt-Spielen. DJe Comoͤdie iſt wenigſtens dem Nahmen nach juͤnger als das Trauer-Spiel: denn in der That waren ſie vor alters einerley; da man noch dem Bachus zu Ehren die ſchimpflichſten Lieder an Feſt-Tagen zu ſingen pfleg- te, O o 5

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 585. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/613>, abgerufen am 30.12.2024.