Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Des II Theils VI Capitel erschleichen. Wegen der beyden andern darf ich nichts sa-gen, als daß sie neuer sind, und mehr mich selbst, als andre angehen. I. Satire, die Reimsucht. Persius. VErstimmte Sayten auf! verstummte Thöne klingt! Da ein verwegnes Volck auf allen Straßen singt, Da so viel Stümper jetzt auf lahmen Fiedeln geigen, Darf meine Leyer wohl durchaus nicht länger schweigen. Jedoch besinne dich, mein übereilter Geist, Ersticke Trieb und Lust, die dich zum Dichten reißt. Jst dir der Musen Kunst noch nicht versaltzen worden, Nachdem des wilden Pans verhaßter Sänger-Orden, Jtzund so manches Nest voll Jungen ausgeheckt, Und durch die rohe Brut halb Deutschland angesteckt? Man hört ja mit Verdruß die Hunger-Lieder schallen, Die das geborgte Rohr dem Magen zu gefallen, Dem Drucker zum Gewinn, aus Noth erzwingen muß. Man sieht ja dieses Volck durch übereilten Schluß, Ein welckes Pappelreis anstatt der Lorbern wehlen, Und nachmahls sich gantz frech zu Phöbus Söhnen zehlen. Gantz Sachsen ist erstarrt und wundert sich dabey, Die Deutsche Welt erschrickt, und weiß nicht, was es sey, Wie kommt es, fragt man offt, daß sich auf allen Gassen, Das Dichter-Volck bisher so häufig hören lassen? Man hat ja jederzeit vom Musen-Gott gehört, Daß er nicht alle Welt mit seiner Gunst beehrt. Das alte Griechenland hat in viel hundert Jahren Kaum sechs bis siebenmahl ein solches Glück erfahren. Ein Orpheus, ein Homer, und ein Hesiodus, Ein grosser Sophocles, Menander, Pindarus Sind fast allein berühmt. Und Rom, das Haupt der Erden, Schien auch vorzeiten zwar an Dichtern reich zu werden: Vir-
Des II Theils VI Capitel erſchleichen. Wegen der beyden andern darf ich nichts ſa-gen, als daß ſie neuer ſind, und mehr mich ſelbſt, als andre angehen. I. Satire, die Reimſucht. Perſius. VErſtimmte Sayten auf! verſtummte Thoͤne klingt! Da ein verwegnes Volck auf allen Straßen ſingt, Da ſo viel Stuͤmper jetzt auf lahmen Fiedeln geigen, Darf meine Leyer wohl durchaus nicht laͤnger ſchweigen. Jedoch beſinne dich, mein uͤbereilter Geiſt, Erſticke Trieb und Luſt, die dich zum Dichten reißt. Jſt dir der Muſen Kunſt noch nicht verſaltzen worden, Nachdem des wilden Pans verhaßter Saͤnger-Orden, Jtzund ſo manches Neſt voll Jungen ausgeheckt, Und durch die rohe Brut halb Deutſchland angeſteckt? Man hoͤrt ja mit Verdruß die Hunger-Lieder ſchallen, Die das geborgte Rohr dem Magen zu gefallen, Dem Drucker zum Gewinn, aus Noth erzwingen muß. Man ſieht ja dieſes Volck durch uͤbereilten Schluß, Ein welckes Pappelreis anſtatt der Lorbern wehlen, Und nachmahls ſich gantz frech zu Phoͤbus Soͤhnen zehlen. Gantz Sachſen iſt erſtarrt und wundert ſich dabey, Die Deutſche Welt erſchrickt, und weiß nicht, was es ſey, Wie kommt es, fragt man offt, daß ſich auf allen Gaſſen, Das Dichter-Volck bisher ſo haͤufig hoͤren laſſen? Man hat ja jederzeit vom Muſen-Gott gehoͤrt, Daß er nicht alle Welt mit ſeiner Gunſt beehrt. Das alte Griechenland hat in viel hundert Jahren Kaum ſechs bis ſiebenmahl ein ſolches Gluͤck erfahren. Ein Orpheus, ein Homer, und ein Heſiodus, Ein groſſer Sophocles, Menander, Pindarus Sind faſt allein beruͤhmt. Und Rom, das Haupt der Erden, Schien auch vorzeiten zwar an Dichtern reich zu werden: Vir-
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0494" n="466"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Des <hi rendition="#aq">II</hi> Theils <hi rendition="#aq">VI</hi> Capitel</hi></fw><lb/> erſchleichen. Wegen der beyden andern darf ich nichts ſa-<lb/> gen, als daß ſie neuer ſind, und mehr mich ſelbſt, als andre<lb/> angehen.</p><lb/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi> Satire,</hi> <hi rendition="#fr">die Reimſucht.</hi> </head><lb/> <cit> <quote> <hi rendition="#aq"><hi rendition="#c">Perſius.</hi><lb/> Coruos quis olim caeſarem ſalutare,<lb/> Picasque docuit noſtra verba conari?<lb/> Magiſter artis, ingenique largitor<lb/> Venter; negatas artifex ſequi voces.<lb/> Quedſi doloſi ſpes refulſerit numi,<lb/> Coruos poetas & poetrias picas<lb/> Cantare credas Pegaſeïum melos.</hi> </quote> </cit><lb/> <lg type="poem"> <lg n="42"> <l><hi rendition="#in">V</hi>Erſtimmte Sayten auf! verſtummte Thoͤne klingt!</l><lb/> <l>Da ein verwegnes Volck auf allen Straßen ſingt,</l><lb/> <l>Da ſo viel Stuͤmper jetzt auf lahmen Fiedeln geigen,</l><lb/> <l>Darf meine Leyer wohl durchaus nicht laͤnger ſchweigen.</l> </lg><lb/> <lg n="43"> <l>Jedoch beſinne dich, mein uͤbereilter Geiſt,</l><lb/> <l>Erſticke Trieb und Luſt, die dich zum Dichten reißt.</l><lb/> <l>Jſt dir der Muſen Kunſt noch nicht verſaltzen worden,</l><lb/> <l>Nachdem des wilden Pans verhaßter Saͤnger-Orden,</l><lb/> <l>Jtzund ſo manches Neſt voll Jungen ausgeheckt,</l><lb/> <l>Und durch die rohe Brut halb Deutſchland angeſteckt?</l><lb/> <l>Man hoͤrt ja mit Verdruß die Hunger-Lieder ſchallen,</l><lb/> <l>Die das geborgte Rohr dem Magen zu gefallen,</l><lb/> <l>Dem Drucker zum Gewinn, aus Noth erzwingen muß.</l><lb/> <l>Man ſieht ja dieſes Volck durch uͤbereilten Schluß,</l><lb/> <l>Ein welckes Pappelreis anſtatt der Lorbern wehlen,</l><lb/> <l>Und nachmahls ſich gantz frech zu Phoͤbus Soͤhnen zehlen.</l><lb/> <l>Gantz Sachſen iſt erſtarrt und wundert ſich dabey,</l><lb/> <l>Die Deutſche Welt erſchrickt, und weiß nicht, was es ſey,</l><lb/> <l>Wie kommt es, fragt man offt, daß ſich auf allen Gaſſen,</l><lb/> <l>Das Dichter-Volck bisher ſo haͤufig hoͤren laſſen?</l><lb/> <l>Man hat ja jederzeit vom Muſen-Gott gehoͤrt,</l><lb/> <l>Daß er nicht alle Welt mit ſeiner Gunſt beehrt.</l><lb/> <l>Das alte Griechenland hat in viel hundert Jahren</l><lb/> <l>Kaum ſechs bis ſiebenmahl ein ſolches Gluͤck erfahren.</l><lb/> <l>Ein Orpheus, ein Homer, und ein Heſiodus,</l><lb/> <l>Ein groſſer Sophocles, Menander, Pindarus</l><lb/> <l>Sind faſt allein beruͤhmt. Und Rom, das Haupt der Erden,</l><lb/> <l>Schien auch vorzeiten zwar an Dichtern reich zu werden:<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Vir-</fw><lb/></l> </lg> </lg> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [466/0494]
Des II Theils VI Capitel
erſchleichen. Wegen der beyden andern darf ich nichts ſa-
gen, als daß ſie neuer ſind, und mehr mich ſelbſt, als andre
angehen.
I. Satire, die Reimſucht.
Perſius.
Coruos quis olim caeſarem ſalutare,
Picasque docuit noſtra verba conari?
Magiſter artis, ingenique largitor
Venter; negatas artifex ſequi voces.
Quedſi doloſi ſpes refulſerit numi,
Coruos poetas & poetrias picas
Cantare credas Pegaſeïum melos.
VErſtimmte Sayten auf! verſtummte Thoͤne klingt!
Da ein verwegnes Volck auf allen Straßen ſingt,
Da ſo viel Stuͤmper jetzt auf lahmen Fiedeln geigen,
Darf meine Leyer wohl durchaus nicht laͤnger ſchweigen.
Jedoch beſinne dich, mein uͤbereilter Geiſt,
Erſticke Trieb und Luſt, die dich zum Dichten reißt.
Jſt dir der Muſen Kunſt noch nicht verſaltzen worden,
Nachdem des wilden Pans verhaßter Saͤnger-Orden,
Jtzund ſo manches Neſt voll Jungen ausgeheckt,
Und durch die rohe Brut halb Deutſchland angeſteckt?
Man hoͤrt ja mit Verdruß die Hunger-Lieder ſchallen,
Die das geborgte Rohr dem Magen zu gefallen,
Dem Drucker zum Gewinn, aus Noth erzwingen muß.
Man ſieht ja dieſes Volck durch uͤbereilten Schluß,
Ein welckes Pappelreis anſtatt der Lorbern wehlen,
Und nachmahls ſich gantz frech zu Phoͤbus Soͤhnen zehlen.
Gantz Sachſen iſt erſtarrt und wundert ſich dabey,
Die Deutſche Welt erſchrickt, und weiß nicht, was es ſey,
Wie kommt es, fragt man offt, daß ſich auf allen Gaſſen,
Das Dichter-Volck bisher ſo haͤufig hoͤren laſſen?
Man hat ja jederzeit vom Muſen-Gott gehoͤrt,
Daß er nicht alle Welt mit ſeiner Gunſt beehrt.
Das alte Griechenland hat in viel hundert Jahren
Kaum ſechs bis ſiebenmahl ein ſolches Gluͤck erfahren.
Ein Orpheus, ein Homer, und ein Heſiodus,
Ein groſſer Sophocles, Menander, Pindarus
Sind faſt allein beruͤhmt. Und Rom, das Haupt der Erden,
Schien auch vorzeiten zwar an Dichtern reich zu werden:
Vir-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |