Das dritte Capitel Von Jdyllen, Eclogen oder Schäfer-Gedichten.
MAn kan gewissermassen sagen, daß diese Gattung von Gedichten die allerälteste sey. Denn ob ich wohl in dem Hauptstücke von Oden, im Absehen auf dieselbe eben das behauptet: so wiederspreche ich mir doch nicht; wenn ich sage; daß die allerersten Lieder Schäfer-Lieder oder Hir- ten-Gedichte gewesen. Die ersten Einwohner der Welt nehrten sich bloß von der Viehzucht. Der Ackerbau, die Jagt, der Fischfang und das Weinpflantzen sind viel später erfunden und in Schwang gebracht worden. Die Kauf- mannschafft und alle andre Künste sind noch viel jünger. Da nun die Erfindung der Poesie mit den ersten Menschen gleich alt ist; so sind die ersten Poeten oder Lieder-Dichter, Schäfer oder Hirten gewesen. Ohne Zweifel haben sie ihre Gesänge nach ihrem Character und ihrer Lebensart einge- richtet: Folglich sind ihre Gedichte Schäfer-Gedichte ge- wesen.
Jch will damit nicht behaupten, daß die ältesten Gedichte so wir haben, Schäfer-Gedichte wären. Nein, was wir vom Theocritus, Bion und Moschus in dieser Art haben, ist sehr neu. Die allerersten Poesien sind nicht bis auf unsre Zeiten gekommen: ja sie haben nicht können so lange erhalten wer- den; weil sie niemahls aufgeschrieben worden. Was nur im Gedächtnisse behalten und mündlich fortgepflantzet wird, kan gar zu leicht verlohren gehen. Daß aber vor Theocriti Zeiten wircklich Schäfer-Gedichte müssen gemacht worden seyn, kan aus seinen eigenen Jdyllen erwiesen werden. Er berufft sich immer auf die Arcadischen Hirten, als gute Poe- ten, die vom Pan ihre Music gefasset hätten. Es müssen doch also unter den damahligen Schäfern mancherley Lieder im Schwange gewesen seyn, die zum Theil sehr alt gewesen
seyn
Das dritte Capitel Von Jdyllen, Eclogen oder Schaͤfer-Gedichten.
MAn kan gewiſſermaſſen ſagen, daß dieſe Gattung von Gedichten die alleraͤlteſte ſey. Denn ob ich wohl in dem Hauptſtuͤcke von Oden, im Abſehen auf dieſelbe eben das behauptet: ſo wiederſpreche ich mir doch nicht; wenn ich ſage; daß die allererſten Lieder Schaͤfer-Lieder oder Hir- ten-Gedichte geweſen. Die erſten Einwohner der Welt nehrten ſich bloß von der Viehzucht. Der Ackerbau, die Jagt, der Fiſchfang und das Weinpflantzen ſind viel ſpaͤter erfunden und in Schwang gebracht worden. Die Kauf- mannſchafft und alle andre Kuͤnſte ſind noch viel juͤnger. Da nun die Erfindung der Poeſie mit den erſten Menſchen gleich alt iſt; ſo ſind die erſten Poeten oder Lieder-Dichter, Schaͤfer oder Hirten geweſen. Ohne Zweifel haben ſie ihre Geſaͤnge nach ihrem Character und ihrer Lebensart einge- richtet: Folglich ſind ihre Gedichte Schaͤfer-Gedichte ge- weſen.
Jch will damit nicht behaupten, daß die aͤlteſten Gedichte ſo wir haben, Schaͤfer-Gedichte waͤren. Nein, was wir vom Theocritus, Bion und Moſchus in dieſer Art haben, iſt ſehr neu. Die allererſten Poeſien ſind nicht bis auf unſre Zeiten gekommen: ja ſie haben nicht koͤnnen ſo lange erhalten wer- den; weil ſie niemahls aufgeſchrieben worden. Was nur im Gedaͤchtniſſe behalten und muͤndlich fortgepflantzet wird, kan gar zu leicht verlohren gehen. Daß aber vor Theocriti Zeiten wircklich Schaͤfer-Gedichte muͤſſen gemacht worden ſeyn, kan aus ſeinen eigenen Jdyllen erwieſen werden. Er berufft ſich immer auf die Arcadiſchen Hirten, als gute Poe- ten, die vom Pan ihre Muſic gefaſſet haͤtten. Es muͤſſen doch alſo unter den damahligen Schaͤfern mancherley Lieder im Schwange geweſen ſeyn, die zum Theil ſehr alt geweſen
ſeyn
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0409"n="381"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="2"><head><hirendition="#b">Das dritte Capitel<lb/>
Von Jdyllen, Eclogen oder<lb/>
Schaͤfer-Gedichten.</hi></head><lb/><p><hirendition="#in">M</hi>An kan gewiſſermaſſen ſagen, daß dieſe Gattung von<lb/>
Gedichten die alleraͤlteſte ſey. Denn ob ich wohl in<lb/>
dem Hauptſtuͤcke von Oden, im Abſehen auf dieſelbe<lb/>
eben das behauptet: ſo wiederſpreche ich mir doch nicht; wenn<lb/>
ich ſage; daß die allererſten Lieder Schaͤfer-Lieder oder Hir-<lb/>
ten-Gedichte geweſen. Die erſten Einwohner der Welt<lb/>
nehrten ſich bloß von der Viehzucht. Der Ackerbau, die<lb/>
Jagt, der Fiſchfang und das Weinpflantzen ſind viel ſpaͤter<lb/>
erfunden und in Schwang gebracht worden. Die Kauf-<lb/>
mannſchafft und alle andre Kuͤnſte ſind noch viel juͤnger. Da<lb/>
nun die Erfindung der Poeſie mit den erſten Menſchen<lb/>
gleich alt iſt; ſo ſind die erſten Poeten oder Lieder-Dichter,<lb/>
Schaͤfer oder Hirten geweſen. Ohne Zweifel haben ſie ihre<lb/>
Geſaͤnge nach ihrem Character und ihrer Lebensart einge-<lb/>
richtet: Folglich ſind ihre Gedichte Schaͤfer-Gedichte ge-<lb/>
weſen.</p><lb/><p>Jch will damit nicht behaupten, daß die aͤlteſten Gedichte<lb/>ſo wir haben, Schaͤfer-Gedichte waͤren. Nein, was wir vom<lb/>
Theocritus, Bion und Moſchus in dieſer Art haben, iſt ſehr<lb/>
neu. Die allererſten Poeſien ſind nicht bis auf unſre Zeiten<lb/>
gekommen: ja ſie haben nicht koͤnnen ſo lange erhalten wer-<lb/>
den; weil ſie niemahls aufgeſchrieben worden. Was nur<lb/>
im Gedaͤchtniſſe behalten und muͤndlich fortgepflantzet wird,<lb/>
kan gar zu leicht verlohren gehen. Daß aber vor Theocriti<lb/>
Zeiten wircklich Schaͤfer-Gedichte muͤſſen gemacht worden<lb/>ſeyn, kan aus ſeinen eigenen Jdyllen erwieſen werden. Er<lb/>
berufft ſich immer auf die Arcadiſchen Hirten, als gute Poe-<lb/>
ten, die vom Pan ihre Muſic gefaſſet haͤtten. Es muͤſſen<lb/>
doch alſo unter den damahligen Schaͤfern mancherley Lieder<lb/>
im Schwange geweſen ſeyn, die zum Theil ſehr alt geweſen<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſeyn</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[381/0409]
Das dritte Capitel
Von Jdyllen, Eclogen oder
Schaͤfer-Gedichten.
MAn kan gewiſſermaſſen ſagen, daß dieſe Gattung von
Gedichten die alleraͤlteſte ſey. Denn ob ich wohl in
dem Hauptſtuͤcke von Oden, im Abſehen auf dieſelbe
eben das behauptet: ſo wiederſpreche ich mir doch nicht; wenn
ich ſage; daß die allererſten Lieder Schaͤfer-Lieder oder Hir-
ten-Gedichte geweſen. Die erſten Einwohner der Welt
nehrten ſich bloß von der Viehzucht. Der Ackerbau, die
Jagt, der Fiſchfang und das Weinpflantzen ſind viel ſpaͤter
erfunden und in Schwang gebracht worden. Die Kauf-
mannſchafft und alle andre Kuͤnſte ſind noch viel juͤnger. Da
nun die Erfindung der Poeſie mit den erſten Menſchen
gleich alt iſt; ſo ſind die erſten Poeten oder Lieder-Dichter,
Schaͤfer oder Hirten geweſen. Ohne Zweifel haben ſie ihre
Geſaͤnge nach ihrem Character und ihrer Lebensart einge-
richtet: Folglich ſind ihre Gedichte Schaͤfer-Gedichte ge-
weſen.
Jch will damit nicht behaupten, daß die aͤlteſten Gedichte
ſo wir haben, Schaͤfer-Gedichte waͤren. Nein, was wir vom
Theocritus, Bion und Moſchus in dieſer Art haben, iſt ſehr
neu. Die allererſten Poeſien ſind nicht bis auf unſre Zeiten
gekommen: ja ſie haben nicht koͤnnen ſo lange erhalten wer-
den; weil ſie niemahls aufgeſchrieben worden. Was nur
im Gedaͤchtniſſe behalten und muͤndlich fortgepflantzet wird,
kan gar zu leicht verlohren gehen. Daß aber vor Theocriti
Zeiten wircklich Schaͤfer-Gedichte muͤſſen gemacht worden
ſeyn, kan aus ſeinen eigenen Jdyllen erwieſen werden. Er
berufft ſich immer auf die Arcadiſchen Hirten, als gute Poe-
ten, die vom Pan ihre Muſic gefaſſet haͤtten. Es muͤſſen
doch alſo unter den damahligen Schaͤfern mancherley Lieder
im Schwange geweſen ſeyn, die zum Theil ſehr alt geweſen
ſeyn
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/409>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.