Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite
Von Oden, oder Liedern.
Jsts wahr, daß hochbetagte Schwanen
Des nahen Todes Einbruch sehn;
Und sich den Weg zum Sterben bahnen,
Wenn sie zuletzt noch singend flehn:
So hat auch mit beredter Zungen
Der Seeligste, bevor er schied,
Ein unvergleichlich Schwanen-Lied,
Zum Ruhm der Tugend, abgesungen.
Das war die Frucht von seinem Wissen,
Die Wirckung der Gelehrsamkeit,
Darauf er sich mit Ernst beflissen,
Seit dem er sich der Kunst geweyht.
Das war der Vortheil kluger Reisen,
Da manches weit entlegne Land
An ihm bereits ein Muster fand,
Die eigne Jugend drauf zu weisen.
Kein aufgeblasnes stoltzes Wesen
Hat seinen Wandel je verstellt;
Sein Blick und Wort war auserlesen,
Sein Umgang eine Lust der Welt.
Bescheidenheit! du seltne Gabe!
Du warst ja Kospoths schönster Schmuck.
Wie nun? Jst das nicht Ruhms genug?
Und doch liegt alles das im Grabe.
Doch nein! es sind nur morsche Scherben,
Zerbrochne Hülsen sind es nur.
Die grosse Seele kan nicht sterben,
Sein Geist war himmlischer Natur.
Ein unauslöschlich Angedencken
Verewigt ihn in unsrer Brust.
O könnt uns diß die alte Lust,
Nach Schmertz und Kummer, wieder schencken!
Auf eine verstorbne Wochnerin in fremdem Nahmen.
ACh Rahel stirbt! und Jacob weinet,
Kein Schmertz ist seinem Schmertze gleich,
Sein liebstes fällt ins Todtenreich,
So daß er gäntzlich trostloß scheinet.
Ach, rufft sein hochbestürtzter Mund,
Ach! seufzt er mit verwirrten Sinnen,
Mein allerliebstes eilt von hinnen,
Und trennt der reinsten Liebe Bund.
Ach, Rahel bleibt im Wochenbette!
O daß sie nie gebohren hätte.
Du
Von Oden, oder Liedern.
Jſts wahr, daß hochbetagte Schwanen
Des nahen Todes Einbruch ſehn;
Und ſich den Weg zum Sterben bahnen,
Wenn ſie zuletzt noch ſingend flehn:
So hat auch mit beredter Zungen
Der Seeligſte, bevor er ſchied,
Ein unvergleichlich Schwanen-Lied,
Zum Ruhm der Tugend, abgeſungen.
Das war die Frucht von ſeinem Wiſſen,
Die Wirckung der Gelehrſamkeit,
Darauf er ſich mit Ernſt befliſſen,
Seit dem er ſich der Kunſt geweyht.
Das war der Vortheil kluger Reiſen,
Da manches weit entlegne Land
An ihm bereits ein Muſter fand,
Die eigne Jugend drauf zu weiſen.
Kein aufgeblaſnes ſtoltzes Weſen
Hat ſeinen Wandel je verſtellt;
Sein Blick und Wort war auserleſen,
Sein Umgang eine Luſt der Welt.
Beſcheidenheit! du ſeltne Gabe!
Du warſt ja Koſpoths ſchoͤnſter Schmuck.
Wie nun? Jſt das nicht Ruhms genug?
Und doch liegt alles das im Grabe.
Doch nein! es ſind nur morſche Scherben,
Zerbrochne Huͤlſen ſind es nur.
Die groſſe Seele kan nicht ſterben,
Sein Geiſt war himmliſcher Natur.
Ein unausloͤſchlich Angedencken
Verewigt ihn in unſrer Bruſt.
O koͤnnt uns diß die alte Luſt,
Nach Schmertz und Kummer, wieder ſchencken!
Auf eine verſtorbne Wochnerin in fremdem Nahmen.
ACh Rahel ſtirbt! und Jacob weinet,
Kein Schmertz iſt ſeinem Schmertze gleich,
Sein liebſtes faͤllt ins Todtenreich,
So daß er gaͤntzlich troſtloß ſcheinet.
Ach, rufft ſein hochbeſtuͤrtzter Mund,
Ach! ſeufzt er mit verwirrten Sinnen,
Mein allerliebſtes eilt von hinnen,
Und trennt der reinſten Liebe Bund.
Ach, Rahel bleibt im Wochenbette!
O daß ſie nie gebohren haͤtte.
Du
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <lg type="poem">
              <pb facs="#f0377" n="349"/>
              <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Von Oden, oder Liedern.</hi> </fw><lb/>
              <lg n="56">
                <l>J&#x017F;ts wahr, daß hochbetagte Schwanen</l><lb/>
                <l>Des nahen Todes Einbruch &#x017F;ehn;</l><lb/>
                <l>Und &#x017F;ich den Weg zum Sterben bahnen,</l><lb/>
                <l>Wenn &#x017F;ie zuletzt noch &#x017F;ingend flehn:</l><lb/>
                <l>So hat auch mit beredter Zungen</l><lb/>
                <l>Der Seelig&#x017F;te, bevor er &#x017F;chied,</l><lb/>
                <l>Ein unvergleichlich Schwanen-Lied,</l><lb/>
                <l>Zum Ruhm der Tugend, abge&#x017F;ungen.</l>
              </lg><lb/>
              <lg n="57">
                <l>Das war die Frucht von &#x017F;einem Wi&#x017F;&#x017F;en,</l><lb/>
                <l>Die Wirckung der Gelehr&#x017F;amkeit,</l><lb/>
                <l>Darauf er &#x017F;ich mit Ern&#x017F;t befli&#x017F;&#x017F;en,</l><lb/>
                <l>Seit dem er &#x017F;ich der Kun&#x017F;t geweyht.</l><lb/>
                <l>Das war der Vortheil kluger Rei&#x017F;en,</l><lb/>
                <l>Da manches weit entlegne Land</l><lb/>
                <l>An ihm bereits ein Mu&#x017F;ter fand,</l><lb/>
                <l>Die eigne Jugend drauf zu wei&#x017F;en.</l>
              </lg><lb/>
              <lg n="58">
                <l>Kein aufgebla&#x017F;nes &#x017F;toltzes We&#x017F;en</l><lb/>
                <l>Hat &#x017F;einen Wandel je ver&#x017F;tellt;</l><lb/>
                <l>Sein Blick und Wort war auserle&#x017F;en,</l><lb/>
                <l>Sein Umgang eine Lu&#x017F;t der Welt.</l><lb/>
                <l>Be&#x017F;cheidenheit! du &#x017F;eltne Gabe!</l><lb/>
                <l>Du war&#x017F;t ja Ko&#x017F;poths &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ter Schmuck.</l><lb/>
                <l>Wie nun? J&#x017F;t das nicht Ruhms genug?</l><lb/>
                <l>Und doch liegt alles das im Grabe.</l>
              </lg><lb/>
              <lg n="59">
                <l>Doch nein! es &#x017F;ind nur mor&#x017F;che Scherben,</l><lb/>
                <l>Zerbrochne Hu&#x0364;l&#x017F;en &#x017F;ind es nur.</l><lb/>
                <l>Die gro&#x017F;&#x017F;e Seele kan nicht &#x017F;terben,</l><lb/>
                <l>Sein Gei&#x017F;t war himmli&#x017F;cher Natur.</l><lb/>
                <l>Ein unauslo&#x0364;&#x017F;chlich Angedencken</l><lb/>
                <l>Verewigt ihn in un&#x017F;rer Bru&#x017F;t.</l><lb/>
                <l>O ko&#x0364;nnt uns diß die alte Lu&#x017F;t,</l><lb/>
                <l>Nach Schmertz und Kummer, wieder &#x017F;chencken!</l>
              </lg>
            </lg>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Auf eine ver&#x017F;torbne Wochnerin in fremdem Nahmen.</hi> </head><lb/>
            <lg type="poem">
              <lg n="60">
                <l><hi rendition="#in">A</hi>Ch Rahel &#x017F;tirbt! und Jacob weinet,</l><lb/>
                <l>Kein Schmertz i&#x017F;t &#x017F;einem Schmertze gleich,</l><lb/>
                <l>Sein lieb&#x017F;tes fa&#x0364;llt ins Todtenreich,</l><lb/>
                <l>So daß er ga&#x0364;ntzlich tro&#x017F;tloß &#x017F;cheinet.</l><lb/>
                <l>Ach, rufft &#x017F;ein hochbe&#x017F;tu&#x0364;rtzter Mund,</l><lb/>
                <l>Ach! &#x017F;eufzt er mit verwirrten Sinnen,</l><lb/>
                <l>Mein allerlieb&#x017F;tes eilt von hinnen,</l><lb/>
                <l>Und trennt der rein&#x017F;ten Liebe Bund.</l><lb/>
                <l>Ach, Rahel bleibt im Wochenbette!</l><lb/>
                <l>O daß &#x017F;ie nie gebohren ha&#x0364;tte.</l>
              </lg><lb/>
              <fw place="bottom" type="catch">Du</fw><lb/>
            </lg>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[349/0377] Von Oden, oder Liedern. Jſts wahr, daß hochbetagte Schwanen Des nahen Todes Einbruch ſehn; Und ſich den Weg zum Sterben bahnen, Wenn ſie zuletzt noch ſingend flehn: So hat auch mit beredter Zungen Der Seeligſte, bevor er ſchied, Ein unvergleichlich Schwanen-Lied, Zum Ruhm der Tugend, abgeſungen. Das war die Frucht von ſeinem Wiſſen, Die Wirckung der Gelehrſamkeit, Darauf er ſich mit Ernſt befliſſen, Seit dem er ſich der Kunſt geweyht. Das war der Vortheil kluger Reiſen, Da manches weit entlegne Land An ihm bereits ein Muſter fand, Die eigne Jugend drauf zu weiſen. Kein aufgeblaſnes ſtoltzes Weſen Hat ſeinen Wandel je verſtellt; Sein Blick und Wort war auserleſen, Sein Umgang eine Luſt der Welt. Beſcheidenheit! du ſeltne Gabe! Du warſt ja Koſpoths ſchoͤnſter Schmuck. Wie nun? Jſt das nicht Ruhms genug? Und doch liegt alles das im Grabe. Doch nein! es ſind nur morſche Scherben, Zerbrochne Huͤlſen ſind es nur. Die groſſe Seele kan nicht ſterben, Sein Geiſt war himmliſcher Natur. Ein unausloͤſchlich Angedencken Verewigt ihn in unſrer Bruſt. O koͤnnt uns diß die alte Luſt, Nach Schmertz und Kummer, wieder ſchencken! Auf eine verſtorbne Wochnerin in fremdem Nahmen. ACh Rahel ſtirbt! und Jacob weinet, Kein Schmertz iſt ſeinem Schmertze gleich, Sein liebſtes faͤllt ins Todtenreich, So daß er gaͤntzlich troſtloß ſcheinet. Ach, rufft ſein hochbeſtuͤrtzter Mund, Ach! ſeufzt er mit verwirrten Sinnen, Mein allerliebſtes eilt von hinnen, Und trennt der reinſten Liebe Bund. Ach, Rahel bleibt im Wochenbette! O daß ſie nie gebohren haͤtte. Du

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/377
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/377>, abgerufen am 03.12.2024.