Orte gewesen. Wie kan also ein Ausdruck außer seiner rechten Stelle seine Anmuth und seinen Nachdruck behalten?
Von Wortspielen.
NUn muß ich auch auf die Wortspiele kommen; die vor- zeiten überall so beliebt gewesen, zu unsern Zeiten aber gantz lächerlich geworden. Wenn ich durch ein Wortspiel eine jede Wiederholung eines Wortes oder einer Sylbe ver- stehen wollte, so würde ich in der That viele poetische Schön- heiten verwerfen müssen. Z. E. Wenn Flemming p. 129. schreibt:
Wohl dem, der so verdirbt! Wer eh stirbt, als er stirbt, der stirbt nicht wenn er stirbt.
So kan ich dieß unmöglich ein verwerfliches Wortspiel nen- nen. Denn der Poet hat lauter wahre und wohlgegründete Gedancken im Kopfe, die er am allerbesten auf diese Art aus- zudrücken dachte. Es ist wahr, daß das Wort sterben hier in dreyerley Bedeutung genommen wird. Denn ehe ster- ben, als man stirbt; das heißt eigentlich seinen Lüsten absa- gen, und die Welt verschmähen, ehe noch die Seele vom Leibe getrennet wird. Und nicht sterben, wenn man stirbt, heißt soviel, als in der Welt im guten Andencken bleiben, ja auch der Seelen nach ewig leben; wenn man gleich dem Cör- per nach entseelet worden. Also könnte man freylich hier sa- gen, der Poet hätte mit dem Worte sterben gespielet, und es bald in eigentlichem, bald in verblümtem Verstande genom- men. Allein gesetzt, daß man dieses ein Wortspiel heißen wollte, welches denn eine willkührliche Sache ist: So könn- te es doch kein verwerfliches Wortspiel heißen. Denn der Gedancke in der gantzen Zeile ist richtig, deutlich und auf eine sinnreiche Art ausgedrückt. Man hätte ihn weder kürtzer fassen, noch dem Leser in so wenigen Sylben mehr gute Be- trachtungen veranlassen können. Alle Bedeutungen, die endlich das Wort stirbt bekommt; sind gewöhnlich, und der Leser darf sich also keine Gewalt thun, einen unerhörten Sinn desselben zu errathen.
Gantz
Von poetiſchen Worten.
Orte geweſen. Wie kan alſo ein Ausdruck außer ſeiner rechten Stelle ſeine Anmuth und ſeinen Nachdruck behalten?
Von Wortſpielen.
NUn muß ich auch auf die Wortſpiele kommen; die vor- zeiten uͤberall ſo beliebt geweſen, zu unſern Zeiten aber gantz laͤcherlich geworden. Wenn ich durch ein Wortſpiel eine jede Wiederholung eines Wortes oder einer Sylbe ver- ſtehen wollte, ſo wuͤrde ich in der That viele poetiſche Schoͤn- heiten verwerfen muͤſſen. Z. E. Wenn Flemming p. 129. ſchreibt:
Wohl dem, der ſo verdirbt! Wer eh ſtirbt, als er ſtirbt, der ſtirbt nicht wenn er ſtirbt.
So kan ich dieß unmoͤglich ein verwerfliches Wortſpiel nen- nen. Denn der Poet hat lauter wahre und wohlgegruͤndete Gedancken im Kopfe, die er am allerbeſten auf dieſe Art aus- zudruͤcken dachte. Es iſt wahr, daß das Wort ſterben hier in dreyerley Bedeutung genommen wird. Denn ehe ſter- ben, als man ſtirbt; das heißt eigentlich ſeinen Luͤſten abſa- gen, und die Welt verſchmaͤhen, ehe noch die Seele vom Leibe getrennet wird. Und nicht ſterben, wenn man ſtirbt, heißt ſoviel, als in der Welt im guten Andencken bleiben, ja auch der Seelen nach ewig leben; wenn man gleich dem Coͤr- per nach entſeelet worden. Alſo koͤnnte man freylich hier ſa- gen, der Poet haͤtte mit dem Worte ſterben geſpielet, und es bald in eigentlichem, bald in verbluͤmtem Verſtande genom- men. Allein geſetzt, daß man dieſes ein Wortſpiel heißen wollte, welches denn eine willkuͤhrliche Sache iſt: So koͤnn- te es doch kein verwerfliches Wortſpiel heißen. Denn der Gedancke in der gantzen Zeile iſt richtig, deutlich und auf eine ſinnreiche Art ausgedruͤckt. Man haͤtte ihn weder kuͤrtzer faſſen, noch dem Leſer in ſo wenigen Sylben mehr gute Be- trachtungen veranlaſſen koͤnnen. Alle Bedeutungen, die endlich das Wort ſtirbt bekommt; ſind gewoͤhnlich, und der Leſer darf ſich alſo keine Gewalt thun, einen unerhoͤrten Sinn deſſelben zu errathen.
Gantz
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Von poetiſchen Worten.
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Von Wortſpielen.
NUn muß ich auch auf die Wortſpiele kommen; die vor-
zeiten uͤberall ſo beliebt geweſen, zu unſern Zeiten aber
gantz laͤcherlich geworden. Wenn ich durch ein Wortſpiel
eine jede Wiederholung eines Wortes oder einer Sylbe ver-
ſtehen wollte, ſo wuͤrde ich in der That viele poetiſche Schoͤn-
heiten verwerfen muͤſſen. Z. E. Wenn Flemming p. 129.
ſchreibt:
Wohl dem, der ſo verdirbt!
Wer eh ſtirbt, als er ſtirbt, der ſtirbt nicht wenn er ſtirbt.
So kan ich dieß unmoͤglich ein verwerfliches Wortſpiel nen-
nen. Denn der Poet hat lauter wahre und wohlgegruͤndete
Gedancken im Kopfe, die er am allerbeſten auf dieſe Art aus-
zudruͤcken dachte. Es iſt wahr, daß das Wort ſterben hier
in dreyerley Bedeutung genommen wird. Denn ehe ſter-
ben, als man ſtirbt; das heißt eigentlich ſeinen Luͤſten abſa-
gen, und die Welt verſchmaͤhen, ehe noch die Seele vom
Leibe getrennet wird. Und nicht ſterben, wenn man ſtirbt,
heißt ſoviel, als in der Welt im guten Andencken bleiben, ja
auch der Seelen nach ewig leben; wenn man gleich dem Coͤr-
per nach entſeelet worden. Alſo koͤnnte man freylich hier ſa-
gen, der Poet haͤtte mit dem Worte ſterben geſpielet, und es
bald in eigentlichem, bald in verbluͤmtem Verſtande genom-
men. Allein geſetzt, daß man dieſes ein Wortſpiel heißen
wollte, welches denn eine willkuͤhrliche Sache iſt: So koͤnn-
te es doch kein verwerfliches Wortſpiel heißen. Denn der
Gedancke in der gantzen Zeile iſt richtig, deutlich und auf eine
ſinnreiche Art ausgedruͤckt. Man haͤtte ihn weder kuͤrtzer
faſſen, noch dem Leſer in ſo wenigen Sylben mehr gute Be-
trachtungen veranlaſſen koͤnnen. Alle Bedeutungen, die
endlich das Wort ſtirbt bekommt; ſind gewoͤhnlich, und der
Leſer darf ſich alſo keine Gewalt thun, einen unerhoͤrten Sinn
deſſelben zu errathen.
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/235>, abgerufen am 23.11.2024.
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