Das andre Capitel Von dem Charactere eines Poeten.
NAchdem wir den Ursprung und das allmähliche Wachs- thum der Poesie kürtzlich erwogen: so ist es nicht undien- lich von einem wahren Poeten einen Abriß zu machen, und ihn nach allen seinen Eigenschafften zu beschreiben. Man ist mit diesem Nahmen zu allen Zeiten gar zu freygebig gewesen; weil man nehmlich nicht sattsam eingesehen, was vor eine grosse Fähigkeit der Gemüths-Kräffte, Gelehrsamkeit, Er- fahrung, Ubung und Fleiß zu einem rechtschaffenen Dichter gehören. Und das ist kein Wunder gewesen. Diejenigen haben sichs gemeiniglich angemasset den Titel eines Poeten auszutheilen, die einen viel zu seichten Verstand, und eine viel zu blöde Einsicht in das Wesen der wahren Dichtkunst gehabt. Der Pöbel hat sich allezeit ein Recht zueignen wollen, von poetischen Scribenten zu urtheilen; und dieses ist um desto lächerlicher, da ihm die Beurtheilung prosaischer Schrifften niemahls zugestanden worden. Kan er nun hierinn keinen gültigen Ausspruch thun, und die Verfasser derselben, weder vor gute Historienschreiber, noch vor Redner, Philo- sophen, Arzneyverständige oder Rechtsgelehrte erklären: Wie wird er von Gedichten zu urtheilen vermögend seyn, als deren Einrichtung und Ausarbeitung desto schwerer zu prüfen ist; je mehr sie unter so vielen äusserlichen Schönheiten und Zierrathen, dadurch auch critische Augen zuweilen verblendet werden, verhüllet, ja tief verborgen lieget. Plinius schreibt an einem Orte: Von Künstlern kan nur ein Künstler urthei- len. Man wird also mit der Poesie wohl nicht unbilliger han- deln wollen, als mit der Music, Mahlerey, Baukunst und dem Bildschnitzen. Wer berufft sich aber in allen diesen Kün- sten auf das Urtheil des grossen Haufens? Das würden
schlechte
Das andre Capitel Von dem Charactere eines Poeten.
NAchdem wir den Urſprung und das allmaͤhliche Wachs- thum der Poeſie kuͤrtzlich erwogen: ſo iſt es nicht undien- lich von einem wahren Poeten einen Abriß zu machen, und ihn nach allen ſeinen Eigenſchafften zu beſchreiben. Man iſt mit dieſem Nahmen zu allen Zeiten gar zu freygebig geweſen; weil man nehmlich nicht ſattſam eingeſehen, was vor eine groſſe Faͤhigkeit der Gemuͤths-Kraͤffte, Gelehrſamkeit, Er- fahrung, Ubung und Fleiß zu einem rechtſchaffenen Dichter gehoͤren. Und das iſt kein Wunder geweſen. Diejenigen haben ſichs gemeiniglich angemaſſet den Titel eines Poeten auszutheilen, die einen viel zu ſeichten Verſtand, und eine viel zu bloͤde Einſicht in das Weſen der wahren Dichtkunſt gehabt. Der Poͤbel hat ſich allezeit ein Recht zueignen wollen, von poetiſchen Scribenten zu urtheilen; und dieſes iſt um deſto laͤcherlicher, da ihm die Beurtheilung proſaiſcher Schrifften niemahls zugeſtanden worden. Kan er nun hierinn keinen guͤltigen Ausſpruch thun, und die Verfaſſer derſelben, weder vor gute Hiſtorienſchreiber, noch vor Redner, Philo- ſophen, Arzneyverſtaͤndige oder Rechtsgelehrte erklaͤren: Wie wird er von Gedichten zu urtheilen vermoͤgend ſeyn, als deren Einrichtung und Ausarbeitung deſto ſchwerer zu pruͤfen iſt; je mehr ſie unter ſo vielen aͤuſſerlichen Schoͤnheiten und Zierrathen, dadurch auch critiſche Augen zuweilen verblendet werden, verhuͤllet, ja tief verborgen lieget. Plinius ſchreibt an einem Orte: Von Kuͤnſtlern kan nur ein Kuͤnſtler urthei- len. Man wird alſo mit der Poeſie wohl nicht unbilliger han- deln wollen, als mit der Muſic, Mahlerey, Baukunſt und dem Bildſchnitzen. Wer berufft ſich aber in allen dieſen Kuͤn- ſten auf das Urtheil des groſſen Haufens? Das wuͤrden
ſchlechte
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Das andre Capitel
Von dem Charactere eines
Poeten.
NAchdem wir den Urſprung und das allmaͤhliche Wachs-
thum der Poeſie kuͤrtzlich erwogen: ſo iſt es nicht undien-
lich von einem wahren Poeten einen Abriß zu machen, und
ihn nach allen ſeinen Eigenſchafften zu beſchreiben. Man iſt
mit dieſem Nahmen zu allen Zeiten gar zu freygebig geweſen;
weil man nehmlich nicht ſattſam eingeſehen, was vor eine
groſſe Faͤhigkeit der Gemuͤths-Kraͤffte, Gelehrſamkeit, Er-
fahrung, Ubung und Fleiß zu einem rechtſchaffenen Dichter
gehoͤren. Und das iſt kein Wunder geweſen. Diejenigen
haben ſichs gemeiniglich angemaſſet den Titel eines Poeten
auszutheilen, die einen viel zu ſeichten Verſtand, und eine
viel zu bloͤde Einſicht in das Weſen der wahren Dichtkunſt
gehabt. Der Poͤbel hat ſich allezeit ein Recht zueignen wollen,
von poetiſchen Scribenten zu urtheilen; und dieſes iſt um
deſto laͤcherlicher, da ihm die Beurtheilung proſaiſcher
Schrifften niemahls zugeſtanden worden. Kan er nun hierinn
keinen guͤltigen Ausſpruch thun, und die Verfaſſer derſelben,
weder vor gute Hiſtorienſchreiber, noch vor Redner, Philo-
ſophen, Arzneyverſtaͤndige oder Rechtsgelehrte erklaͤren:
Wie wird er von Gedichten zu urtheilen vermoͤgend ſeyn, als
deren Einrichtung und Ausarbeitung deſto ſchwerer zu pruͤfen
iſt; je mehr ſie unter ſo vielen aͤuſſerlichen Schoͤnheiten und
Zierrathen, dadurch auch critiſche Augen zuweilen verblendet
werden, verhuͤllet, ja tief verborgen lieget. Plinius ſchreibt
an einem Orte: Von Kuͤnſtlern kan nur ein Kuͤnſtler urthei-
len. Man wird alſo mit der Poeſie wohl nicht unbilliger han-
deln wollen, als mit der Muſic, Mahlerey, Baukunſt und
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ſten auf das Urtheil des groſſen Haufens? Das wuͤrden
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/107>, abgerufen am 21.11.2024.
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