Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



wo er sie am nöthigsten braucht? Und wenn er
in Freude sich aufschwingt, oder im Leiden ver-
sinkt, wird er nicht in beyden eben da aufgehal-
ten, eben da wieder zu dem stumpfen kalten Be-
wustseyn zurük gebracht, da er sich in der Fülle
des Unendlichen zu verliehren sehnte.




Lieber Wilhelm, ich bin in einem Zustande, in dem
jene Unglüklichen müssen gewesen seyn, von
denen man glaubte, sie würden von einem bösen
Geiste umher getrieben. Manchmal ergreift mich's,
es ist nicht Angst, nicht Begier! es ist ein inne-
res unbekanntes Toben, das meine Brust zu zer-
reissen droht, das mir die Gurgel zupreßt! We-
he! Wehe! Und dann schweif ich umher in den
furchtbaren nächtlichen Scenen dieser menschen-
feindlichen Jahrszeit.

Gestern Nacht mußt ich hinaus. Jch hatte
noch Abends gehört, der Fluß sey übergetreten und
die Bäche all, und von Wahlheim herunter all
mein Liebesthal überschwemmt. Nachts nach eilf

rannt



wo er ſie am noͤthigſten braucht? Und wenn er
in Freude ſich aufſchwingt, oder im Leiden ver-
ſinkt, wird er nicht in beyden eben da aufgehal-
ten, eben da wieder zu dem ſtumpfen kalten Be-
wuſtſeyn zuruͤk gebracht, da er ſich in der Fuͤlle
des Unendlichen zu verliehren ſehnte.




Lieber Wilhelm, ich bin in einem Zuſtande, in dem
jene Ungluͤklichen muͤſſen geweſen ſeyn, von
denen man glaubte, ſie wuͤrden von einem boͤſen
Geiſte umher getrieben. Manchmal ergreift mich’s,
es iſt nicht Angſt, nicht Begier! es iſt ein inne-
res unbekanntes Toben, das meine Bruſt zu zer-
reiſſen droht, das mir die Gurgel zupreßt! We-
he! Wehe! Und dann ſchweif ich umher in den
furchtbaren naͤchtlichen Scenen dieſer menſchen-
feindlichen Jahrszeit.

Geſtern Nacht mußt ich hinaus. Jch hatte
noch Abends gehoͤrt, der Fluß ſey uͤbergetreten und
die Baͤche all, und von Wahlheim herunter all
mein Liebesthal uͤberſchwemmt. Nachts nach eilf

rannt
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="diaryEntry">
        <div type="diaryEntry">
          <p><pb facs="#f0060" n="172"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
wo er &#x017F;ie am no&#x0364;thig&#x017F;ten braucht? Und wenn er<lb/>
in Freude &#x017F;ich auf&#x017F;chwingt, oder im Leiden ver-<lb/>
&#x017F;inkt, wird er nicht in beyden eben da aufgehal-<lb/>
ten, eben da wieder zu dem &#x017F;tumpfen kalten Be-<lb/>
wu&#x017F;t&#x017F;eyn zuru&#x0364;k gebracht, da  er &#x017F;ich in der Fu&#x0364;lle<lb/>
des Unendlichen zu verliehren &#x017F;ehnte.</p><lb/>
        </div>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div type="diaryEntry">
          <dateline> <hi rendition="#et">am 8 Dez.</hi> </dateline><lb/>
          <p><hi rendition="#in">L</hi>ieber Wilhelm, ich bin in einem Zu&#x017F;tande, in dem<lb/>
jene Unglu&#x0364;klichen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en gewe&#x017F;en &#x017F;eyn, von<lb/>
denen man glaubte, &#x017F;ie wu&#x0364;rden von einem bo&#x0364;&#x017F;en<lb/>
Gei&#x017F;te umher getrieben. Manchmal ergreift mich&#x2019;s,<lb/>
es i&#x017F;t nicht Ang&#x017F;t, nicht Begier! es i&#x017F;t ein inne-<lb/>
res unbekanntes Toben, das meine Bru&#x017F;t zu zer-<lb/>
rei&#x017F;&#x017F;en droht, das mir die Gurgel zupreßt! We-<lb/>
he! Wehe! Und dann &#x017F;chweif ich umher in den<lb/>
furchtbaren na&#x0364;chtlichen Scenen die&#x017F;er men&#x017F;chen-<lb/>
feindlichen Jahrszeit.</p><lb/>
          <p>Ge&#x017F;tern Nacht mußt ich hinaus. Jch hatte<lb/>
noch Abends geho&#x0364;rt, der Fluß &#x017F;ey u&#x0364;bergetreten und<lb/>
die Ba&#x0364;che all, und von Wahlheim herunter all<lb/>
mein Liebesthal u&#x0364;ber&#x017F;chwemmt. Nachts nach eilf<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">rannt</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[172/0060] wo er ſie am noͤthigſten braucht? Und wenn er in Freude ſich aufſchwingt, oder im Leiden ver- ſinkt, wird er nicht in beyden eben da aufgehal- ten, eben da wieder zu dem ſtumpfen kalten Be- wuſtſeyn zuruͤk gebracht, da er ſich in der Fuͤlle des Unendlichen zu verliehren ſehnte. am 8 Dez. Lieber Wilhelm, ich bin in einem Zuſtande, in dem jene Ungluͤklichen muͤſſen geweſen ſeyn, von denen man glaubte, ſie wuͤrden von einem boͤſen Geiſte umher getrieben. Manchmal ergreift mich’s, es iſt nicht Angſt, nicht Begier! es iſt ein inne- res unbekanntes Toben, das meine Bruſt zu zer- reiſſen droht, das mir die Gurgel zupreßt! We- he! Wehe! Und dann ſchweif ich umher in den furchtbaren naͤchtlichen Scenen dieſer menſchen- feindlichen Jahrszeit. Geſtern Nacht mußt ich hinaus. Jch hatte noch Abends gehoͤrt, der Fluß ſey uͤbergetreten und die Baͤche all, und von Wahlheim herunter all mein Liebesthal uͤberſchwemmt. Nachts nach eilf rannt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/60
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/60>, abgerufen am 21.11.2024.