Ja wenn ich dir das so sagen könnte! Jch wi- derstund nicht länger, neigte mich und schwur: Nie will ich's wagen, einen Kuß euch einzudrük- ken Lippen, auf denen die Geister des Himmels schweben -- Und doch -- ich will -- Ha siehst du, das steht wie eine Scheidewand vor meiner Seelen -- diese Seligkeit -- und da untergegan- gen, die Sünde abzubüssen -- Sünde?
am 30. Nov.
Jch soll, ich soll nicht zu mir selbst kommen, wo ich hintrete, begegnet mir eine Erscheinung, die mich aus aller Fassung bringt. Heut! O Schik- sal! O Menschheit!
Jch gehe an dem Wasser hin in der Mit- tagsstunde, ich hatte keine Lust zu essen. Alles war so öde, ein naßkalter Abendwind blies vom Ber- ge, und die grauen Regenwolken zogen das Thal hinein. Von ferne seh ich einen Menschen in ei- nem grünen schlechten Rokke, der zwischen den Fel- sen herumkrabelte und Kräuter zu suchen schien. Als ich näher zu ihm kam und er sich auf das
Geräusch
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Ja wenn ich dir das ſo ſagen koͤnnte! Jch wi- derſtund nicht laͤnger, neigte mich und ſchwur: Nie will ich’s wagen, einen Kuß euch einzudruͤk- ken Lippen, auf denen die Geiſter des Himmels ſchweben — Und doch — ich will — Ha ſiehſt du, das ſteht wie eine Scheidewand vor meiner Seelen — dieſe Seligkeit — und da untergegan- gen, die Suͤnde abzubuͤſſen — Suͤnde?
am 30. Nov.
Jch ſoll, ich ſoll nicht zu mir ſelbſt kommen, wo ich hintrete, begegnet mir eine Erſcheinung, die mich aus aller Faſſung bringt. Heut! O Schik- ſal! O Menſchheit!
Jch gehe an dem Waſſer hin in der Mit- tagsſtunde, ich hatte keine Luſt zu eſſen. Alles war ſo oͤde, ein naßkalter Abendwind blies vom Ber- ge, und die grauen Regenwolken zogen das Thal hinein. Von ferne ſeh ich einen Menſchen in ei- nem gruͤnen ſchlechten Rokke, der zwiſchen den Fel- ſen herumkrabelte und Kraͤuter zu ſuchen ſchien. Als ich naͤher zu ihm kam und er ſich auf das
Geraͤuſch
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Ja wenn ich dir das ſo ſagen koͤnnte! Jch wi-
derſtund nicht laͤnger, neigte mich und ſchwur:
Nie will ich’s wagen, einen Kuß euch einzudruͤk-
ken Lippen, auf denen die Geiſter des Himmels
ſchweben — Und doch — ich will — Ha ſiehſt
du, das ſteht wie eine Scheidewand vor meiner
Seelen — dieſe Seligkeit — und da untergegan-
gen, die Suͤnde abzubuͤſſen — Suͤnde?
am 30. Nov.
Jch ſoll, ich ſoll nicht zu mir ſelbſt kommen, wo
ich hintrete, begegnet mir eine Erſcheinung, die
mich aus aller Faſſung bringt. Heut! O Schik-
ſal! O Menſchheit!
Jch gehe an dem Waſſer hin in der Mit-
tagsſtunde, ich hatte keine Luſt zu eſſen. Alles war
ſo oͤde, ein naßkalter Abendwind blies vom Ber-
ge, und die grauen Regenwolken zogen das Thal
hinein. Von ferne ſeh ich einen Menſchen in ei-
nem gruͤnen ſchlechten Rokke, der zwiſchen den Fel-
ſen herumkrabelte und Kraͤuter zu ſuchen ſchien.
Als ich naͤher zu ihm kam und er ſich auf das
Geraͤuſch
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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/51>, abgerufen am 07.01.2025.
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