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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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Männer vermehrt werden, all ihre vorige Freuden
werden ihr nach und nach unschmakhaft, bis sie
endlich einen Menschen antrifft, zu dem ein unbe-
kanntes Gefühl sie unwiderstehlich hinreißt, auf
den sie nun all ihre Hofnungen wirst, die Welt
rings um sich vergißt, nichts hört, nichts sieht, nichts
fühlt als ihn, den Einzigen, sich nur sehnt nach ihm,
dem Einzigen. Durch die leere Vergnügen einer
unbeständigen Eitelkeit nicht verdorben, zieht ihr
Verlangen grad nach dem Zwecke: Sie will die
Seinige werden, sie will in ewiger Verbindung all
das Glück antreffen, das ihr mangelt, die Vereini-
gung aller Freuden geniessen, nach denen sie sich
sehnte. Wiederholtes Versprechen, das ihr die
Gewißheit aller Hofnungen versiegelt, kühne Lieb-
kosungen, die ihre Begierden vermehren, umfangen
ganz ihre Seele, sie schwebt in einem dumpfen
Bewußtseyn, in einem Vorgefühl aller Freuden, sie
ist bis auf den höchsten Grad gespannt, wo sie end-
lich ihre Arme ausstrekt, all ihre Wünsche zu um-
fassen -- und ihr Geliebter verläßt Sie -- Er-
starrt; ohne Sinne steht sie vor einem Abgrunde,
und alles ist Finsterniß um sie her, keine Aussicht,

kein
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Maͤnner vermehrt werden, all ihre vorige Freuden
werden ihr nach und nach unſchmakhaft, bis ſie
endlich einen Menſchen antrifft, zu dem ein unbe-
kanntes Gefuͤhl ſie unwiderſtehlich hinreißt, auf
den ſie nun all ihre Hofnungen wirſt, die Welt
rings um ſich vergißt, nichts hoͤrt, nichts ſieht, nichts
fuͤhlt als ihn, den Einzigen, ſich nur ſehnt nach ihm,
dem Einzigen. Durch die leere Vergnuͤgen einer
unbeſtaͤndigen Eitelkeit nicht verdorben, zieht ihr
Verlangen grad nach dem Zwecke: Sie will die
Seinige werden, ſie will in ewiger Verbindung all
das Gluͤck antreffen, das ihr mangelt, die Vereini-
gung aller Freuden genieſſen, nach denen ſie ſich
ſehnte. Wiederholtes Verſprechen, das ihr die
Gewißheit aller Hofnungen verſiegelt, kuͤhne Lieb-
koſungen, die ihre Begierden vermehren, umfangen
ganz ihre Seele, ſie ſchwebt in einem dumpfen
Bewußtſeyn, in einem Vorgefuͤhl aller Freuden, ſie
iſt bis auf den hoͤchſten Grad geſpannt, wo ſie end-
lich ihre Arme ausſtrekt, all ihre Wuͤnſche zu um-
faſſen — und ihr Geliebter verlaͤßt Sie — Er-
ſtarrt; ohne Sinne ſteht ſie vor einem Abgrunde,
und alles iſt Finſterniß um ſie her, keine Ausſicht,

kein
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[87/0087] Maͤnner vermehrt werden, all ihre vorige Freuden werden ihr nach und nach unſchmakhaft, bis ſie endlich einen Menſchen antrifft, zu dem ein unbe- kanntes Gefuͤhl ſie unwiderſtehlich hinreißt, auf den ſie nun all ihre Hofnungen wirſt, die Welt rings um ſich vergißt, nichts hoͤrt, nichts ſieht, nichts fuͤhlt als ihn, den Einzigen, ſich nur ſehnt nach ihm, dem Einzigen. Durch die leere Vergnuͤgen einer unbeſtaͤndigen Eitelkeit nicht verdorben, zieht ihr Verlangen grad nach dem Zwecke: Sie will die Seinige werden, ſie will in ewiger Verbindung all das Gluͤck antreffen, das ihr mangelt, die Vereini- gung aller Freuden genieſſen, nach denen ſie ſich ſehnte. Wiederholtes Verſprechen, das ihr die Gewißheit aller Hofnungen verſiegelt, kuͤhne Lieb- koſungen, die ihre Begierden vermehren, umfangen ganz ihre Seele, ſie ſchwebt in einem dumpfen Bewußtſeyn, in einem Vorgefuͤhl aller Freuden, ſie iſt bis auf den hoͤchſten Grad geſpannt, wo ſie end- lich ihre Arme ausſtrekt, all ihre Wuͤnſche zu um- faſſen — und ihr Geliebter verlaͤßt Sie — Er- ſtarrt; ohne Sinne ſteht ſie vor einem Abgrunde, und alles iſt Finſterniß um ſie her, keine Ausſicht, kein F 4

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/87>, abgerufen am 26.04.2024.