Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite





Jch könnte das beste glüklichste Leben führen,
wenn ich nicht ein Thor wäre. So schöne
Umstände vereinigen sich nicht leicht zusammen, ei-
nes Menschen Herz zu ergözzen, als die sind, in
denen ich mich jezt befinde. Ach so gewiß ist's,
daß unser Herz allein sein Glük macht! Ein
Glied der liebenswürdigen Familie auszumachen,
von dem Alten geliebt zu werden wie ein Sohn,
von den Kleinen wie ein Vater und von Lotten --
und nun der ehrliche Albert, der durch keine lau-
nische Unart mein Glük stört, der mich mit herz-
licher Freundschaft umfaßt, dem ich nach Lotten das
liebste auf der Welt bin -- Wilhelm, es ist eine
Freude uns zu hören, wenn wir spazieren gehn
und uns einander von Lotten unterhalten, es ist
in der Welt nichts lächerlichers erfunden worden
als dieses Verhältniß, und doch kommen mir drü-
ber die Thränen oft in die Augen.

Wenn er mir so von ihrer rechtschaffenen
Mutter erzählt, wie die auf ihrem Todbette Lot-
ten ihr Hauß und ihre Kinder übergeben, und ihm

Lotten





Jch koͤnnte das beſte gluͤklichſte Leben fuͤhren,
wenn ich nicht ein Thor waͤre. So ſchoͤne
Umſtaͤnde vereinigen ſich nicht leicht zuſammen, ei-
nes Menſchen Herz zu ergoͤzzen, als die ſind, in
denen ich mich jezt befinde. Ach ſo gewiß iſt’s,
daß unſer Herz allein ſein Gluͤk macht! Ein
Glied der liebenswuͤrdigen Familie auszumachen,
von dem Alten geliebt zu werden wie ein Sohn,
von den Kleinen wie ein Vater und von Lotten —
und nun der ehrliche Albert, der durch keine lau-
niſche Unart mein Gluͤk ſtoͤrt, der mich mit herz-
licher Freundſchaft umfaßt, dem ich nach Lotten das
liebſte auf der Welt bin — Wilhelm, es iſt eine
Freude uns zu hoͤren, wenn wir ſpazieren gehn
und uns einander von Lotten unterhalten, es iſt
in der Welt nichts laͤcherlichers erfunden worden
als dieſes Verhaͤltniß, und doch kommen mir druͤ-
ber die Thraͤnen oft in die Augen.

Wenn er mir ſo von ihrer rechtſchaffenen
Mutter erzaͤhlt, wie die auf ihrem Todbette Lot-
ten ihr Hauß und ihre Kinder uͤbergeben, und ihm

Lotten
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="diaryEntry">
        <pb facs="#f0077" n="77"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      </div>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <div type="diaryEntry">
        <dateline> <hi rendition="#et">am 10. Aug.</hi> </dateline><lb/>
        <p><hi rendition="#in">J</hi>ch ko&#x0364;nnte das be&#x017F;te glu&#x0364;klich&#x017F;te Leben fu&#x0364;hren,<lb/>
wenn ich nicht ein Thor wa&#x0364;re. So &#x017F;cho&#x0364;ne<lb/>
Um&#x017F;ta&#x0364;nde vereinigen &#x017F;ich nicht leicht zu&#x017F;ammen, ei-<lb/>
nes Men&#x017F;chen Herz zu ergo&#x0364;zzen, als die &#x017F;ind, in<lb/>
denen ich mich jezt befinde. Ach &#x017F;o gewiß i&#x017F;t&#x2019;s,<lb/>
daß un&#x017F;er Herz allein &#x017F;ein Glu&#x0364;k macht! Ein<lb/>
Glied der liebenswu&#x0364;rdigen Familie auszumachen,<lb/>
von dem Alten geliebt zu werden wie ein Sohn,<lb/>
von den Kleinen wie ein Vater und von Lotten &#x2014;<lb/>
und nun der ehrliche Albert, der durch keine lau-<lb/>
ni&#x017F;che Unart mein Glu&#x0364;k &#x017F;to&#x0364;rt, der mich mit herz-<lb/>
licher Freund&#x017F;chaft umfaßt, dem ich nach Lotten das<lb/>
lieb&#x017F;te auf der Welt bin &#x2014; Wilhelm, es i&#x017F;t eine<lb/>
Freude uns zu ho&#x0364;ren, wenn wir &#x017F;pazieren gehn<lb/>
und uns einander von Lotten unterhalten, es i&#x017F;t<lb/>
in der Welt nichts la&#x0364;cherlichers erfunden worden<lb/>
als die&#x017F;es Verha&#x0364;ltniß, und doch kommen mir dru&#x0364;-<lb/>
ber die Thra&#x0364;nen oft in die Augen.</p><lb/>
        <p>Wenn er mir &#x017F;o von ihrer recht&#x017F;chaffenen<lb/>
Mutter erza&#x0364;hlt, wie die auf ihrem Todbette Lot-<lb/>
ten ihr Hauß und ihre Kinder u&#x0364;bergeben, und ihm<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Lotten</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[77/0077] am 10. Aug. Jch koͤnnte das beſte gluͤklichſte Leben fuͤhren, wenn ich nicht ein Thor waͤre. So ſchoͤne Umſtaͤnde vereinigen ſich nicht leicht zuſammen, ei- nes Menſchen Herz zu ergoͤzzen, als die ſind, in denen ich mich jezt befinde. Ach ſo gewiß iſt’s, daß unſer Herz allein ſein Gluͤk macht! Ein Glied der liebenswuͤrdigen Familie auszumachen, von dem Alten geliebt zu werden wie ein Sohn, von den Kleinen wie ein Vater und von Lotten — und nun der ehrliche Albert, der durch keine lau- niſche Unart mein Gluͤk ſtoͤrt, der mich mit herz- licher Freundſchaft umfaßt, dem ich nach Lotten das liebſte auf der Welt bin — Wilhelm, es iſt eine Freude uns zu hoͤren, wenn wir ſpazieren gehn und uns einander von Lotten unterhalten, es iſt in der Welt nichts laͤcherlichers erfunden worden als dieſes Verhaͤltniß, und doch kommen mir druͤ- ber die Thraͤnen oft in die Augen. Wenn er mir ſo von ihrer rechtſchaffenen Mutter erzaͤhlt, wie die auf ihrem Todbette Lot- ten ihr Hauß und ihre Kinder uͤbergeben, und ihm Lotten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/77
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/77>, abgerufen am 21.12.2024.