Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

ne Neutralität mit stiller Zufriedenheit; denn
von solchen Empfindungen und Gegenstän¬
den mich selbst mit wohlwollenden Menschen
zu unterhalten, war mir schon verdrießlich,
wenn sie den tiefsten Sinn nicht fassen konn¬
ten, und nur auf der Oberfläche verweilten.
Nun aber gar über das mit Widersachern
zu streiten, worüber man sich kaum mit
Freunden verstund, schien mir unnütz, ja
verderblich. Denn bald konnte ich bemer¬
ken, daß liebevolle edle Menschen, die in
diesem Falle ihr Herz von Widerwillen und
Haß nicht rein halten konnten, gar bald zur
Ungerechtigkeit übergingen, und, um eine
äußere Form zu vertheidigen, ihr bestes In¬
nerstes beynah zerstöhrten.

So sehr auch der würdige Mann in die¬
sem Falle Unrecht haben mochte, und so sehr
man mich auch gegen ihn aufzubringen such¬
te; konnte ich ihm doch niemals eine herzli¬

ne Neutralität mit ſtiller Zufriedenheit; denn
von ſolchen Empfindungen und Gegenſtän¬
den mich ſelbſt mit wohlwollenden Menſchen
zu unterhalten, war mir ſchon verdrießlich,
wenn ſie den tiefſten Sinn nicht faſſen konn¬
ten, und nur auf der Oberfläche verweilten.
Nun aber gar über das mit Widerſachern
zu ſtreiten, worüber man ſich kaum mit
Freunden verſtund, ſchien mir unnütz, ja
verderblich. Denn bald konnte ich bemer¬
ken, daß liebevolle edle Menſchen, die in
dieſem Falle ihr Herz von Widerwillen und
Haß nicht rein halten konnten, gar bald zur
Ungerechtigkeit übergingen, und, um eine
äußere Form zu vertheidigen, ihr beſtes In¬
nerſtes beynah zerſtöhrten.

So ſehr auch der würdige Mann in die¬
ſem Falle Unrecht haben mochte, und ſo ſehr
man mich auch gegen ihn aufzubringen ſuch¬
te; konnte ich ihm doch niemals eine herzli¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0325" n="319"/>
ne Neutralität mit &#x017F;tiller Zufriedenheit; denn<lb/>
von &#x017F;olchen Empfindungen und Gegen&#x017F;tän¬<lb/>
den mich &#x017F;elb&#x017F;t mit wohlwollenden Men&#x017F;chen<lb/>
zu unterhalten, war mir &#x017F;chon verdrießlich,<lb/>
wenn &#x017F;ie den tief&#x017F;ten Sinn nicht fa&#x017F;&#x017F;en konn¬<lb/>
ten, und nur auf der Oberfläche verweilten.<lb/>
Nun aber gar über das mit Wider&#x017F;achern<lb/>
zu &#x017F;treiten, worüber man &#x017F;ich kaum mit<lb/>
Freunden ver&#x017F;tund, &#x017F;chien mir unnütz, ja<lb/>
verderblich. Denn bald konnte ich bemer¬<lb/>
ken, daß liebevolle edle Men&#x017F;chen, die in<lb/>
die&#x017F;em Falle ihr Herz von Widerwillen und<lb/>
Haß nicht rein halten konnten, gar bald zur<lb/>
Ungerechtigkeit übergingen, und, um eine<lb/>
äußere Form zu vertheidigen, ihr be&#x017F;tes In¬<lb/>
ner&#x017F;tes beynah zer&#x017F;töhrten.</p><lb/>
            <p>So &#x017F;ehr auch der würdige Mann in die¬<lb/>
&#x017F;em Falle Unrecht haben mochte, und &#x017F;o &#x017F;ehr<lb/>
man mich auch gegen ihn aufzubringen &#x017F;uch¬<lb/>
te; konnte ich ihm doch niemals eine herzli¬<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[319/0325] ne Neutralität mit ſtiller Zufriedenheit; denn von ſolchen Empfindungen und Gegenſtän¬ den mich ſelbſt mit wohlwollenden Menſchen zu unterhalten, war mir ſchon verdrießlich, wenn ſie den tiefſten Sinn nicht faſſen konn¬ ten, und nur auf der Oberfläche verweilten. Nun aber gar über das mit Widerſachern zu ſtreiten, worüber man ſich kaum mit Freunden verſtund, ſchien mir unnütz, ja verderblich. Denn bald konnte ich bemer¬ ken, daß liebevolle edle Menſchen, die in dieſem Falle ihr Herz von Widerwillen und Haß nicht rein halten konnten, gar bald zur Ungerechtigkeit übergingen, und, um eine äußere Form zu vertheidigen, ihr beſtes In¬ nerſtes beynah zerſtöhrten. So ſehr auch der würdige Mann in die¬ ſem Falle Unrecht haben mochte, und ſo ſehr man mich auch gegen ihn aufzubringen ſuch¬ te; konnte ich ihm doch niemals eine herzli¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/325
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/325>, abgerufen am 26.12.2024.