Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

scheinungen aber sind wir genöthigt das Phänomen aus
höhern Quellen abzuleiten.

33.

Das Auge eines Wachenden äußert seine Leben-
digkeit besonders darin, daß es durchaus in seinen Zu-
ständen abzuwechseln verlangt, die sich am einfachsten
vom Dunkeln zum Hellen und umgekehrt bewegen. Das
Auge kann und mag nicht einen Moment in einem beson-
dern, in einem durch das Object specificirten Zustande
identisch verharren. Es ist vielmehr zu einer Art von
Opposition genöthigt, die, indem sie das Extrem dem
Extreme, das Mittlere dem Mittleren entgegensetzt,
sogleich das Entgegengesetzte verbindet, und in der Suc-
cession sowohl als in der Gleichzeitigkeit und Gleichört-
lichkeit nach einem Ganzen strebt.

34.

Vielleicht entsteht das außerordentliche Behagen, das
wir bey dem wohlbehandelten Helldunkel farbloser Ge-
mälde und ähnlicher Kunstwerke empfinden, vorzüglich aus
dem gleichzeitigen Gewahrwerden eines Ganzen, das
von dem Organ sonst nur in einer Folge mehr gesucht,
als hervorgebracht wird, und wie es auch gelingen möge,
niemals festgehalten werden kann.


ſcheinungen aber ſind wir genoͤthigt das Phaͤnomen aus
hoͤhern Quellen abzuleiten.

33.

Das Auge eines Wachenden aͤußert ſeine Leben-
digkeit beſonders darin, daß es durchaus in ſeinen Zu-
ſtaͤnden abzuwechſeln verlangt, die ſich am einfachſten
vom Dunkeln zum Hellen und umgekehrt bewegen. Das
Auge kann und mag nicht einen Moment in einem beſon-
dern, in einem durch das Object ſpecificirten Zuſtande
identiſch verharren. Es iſt vielmehr zu einer Art von
Oppoſition genoͤthigt, die, indem ſie das Extrem dem
Extreme, das Mittlere dem Mittleren entgegenſetzt,
ſogleich das Entgegengeſetzte verbindet, und in der Suc-
ceſſion ſowohl als in der Gleichzeitigkeit und Gleichoͤrt-
lichkeit nach einem Ganzen ſtrebt.

34.

Vielleicht entſteht das außerordentliche Behagen, das
wir bey dem wohlbehandelten Helldunkel farbloſer Ge-
maͤlde und aͤhnlicher Kunſtwerke empfinden, vorzuͤglich aus
dem gleichzeitigen Gewahrwerden eines Ganzen, das
von dem Organ ſonſt nur in einer Folge mehr geſucht,
als hervorgebracht wird, und wie es auch gelingen moͤge,
niemals feſtgehalten werden kann.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0066" n="12"/>
&#x017F;cheinungen aber &#x017F;ind wir geno&#x0364;thigt das Pha&#x0364;nomen aus<lb/>
ho&#x0364;hern Quellen abzuleiten.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>33.</head><lb/>
              <p>Das Auge eines Wachenden a&#x0364;ußert &#x017F;eine Leben-<lb/>
digkeit be&#x017F;onders darin, daß es durchaus in &#x017F;einen Zu-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;nden abzuwech&#x017F;eln verlangt, die &#x017F;ich am einfach&#x017F;ten<lb/>
vom Dunkeln zum Hellen und umgekehrt bewegen. Das<lb/>
Auge kann und mag nicht einen Moment in einem be&#x017F;on-<lb/>
dern, in einem durch das Object &#x017F;pecificirten Zu&#x017F;tande<lb/>
identi&#x017F;ch verharren. Es i&#x017F;t vielmehr zu einer Art von<lb/>
Oppo&#x017F;ition geno&#x0364;thigt, die, indem &#x017F;ie das Extrem dem<lb/>
Extreme, das Mittlere dem Mittleren entgegen&#x017F;etzt,<lb/>
&#x017F;ogleich das Entgegenge&#x017F;etzte verbindet, und in der Suc-<lb/>
ce&#x017F;&#x017F;ion &#x017F;owohl als in der Gleichzeitigkeit und Gleicho&#x0364;rt-<lb/>
lichkeit nach einem Ganzen &#x017F;trebt.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>34.</head><lb/>
              <p>Vielleicht ent&#x017F;teht das außerordentliche Behagen, das<lb/>
wir bey dem wohlbehandelten Helldunkel farblo&#x017F;er Ge-<lb/>
ma&#x0364;lde und a&#x0364;hnlicher Kun&#x017F;twerke empfinden, vorzu&#x0364;glich aus<lb/>
dem gleichzeitigen Gewahrwerden eines Ganzen, das<lb/>
von dem Organ &#x017F;on&#x017F;t nur in einer Folge mehr ge&#x017F;ucht,<lb/>
als hervorgebracht wird, und wie es auch gelingen mo&#x0364;ge,<lb/>
niemals fe&#x017F;tgehalten werden kann.</p>
            </div>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[12/0066] ſcheinungen aber ſind wir genoͤthigt das Phaͤnomen aus hoͤhern Quellen abzuleiten. 33. Das Auge eines Wachenden aͤußert ſeine Leben- digkeit beſonders darin, daß es durchaus in ſeinen Zu- ſtaͤnden abzuwechſeln verlangt, die ſich am einfachſten vom Dunkeln zum Hellen und umgekehrt bewegen. Das Auge kann und mag nicht einen Moment in einem beſon- dern, in einem durch das Object ſpecificirten Zuſtande identiſch verharren. Es iſt vielmehr zu einer Art von Oppoſition genoͤthigt, die, indem ſie das Extrem dem Extreme, das Mittlere dem Mittleren entgegenſetzt, ſogleich das Entgegengeſetzte verbindet, und in der Suc- ceſſion ſowohl als in der Gleichzeitigkeit und Gleichoͤrt- lichkeit nach einem Ganzen ſtrebt. 34. Vielleicht entſteht das außerordentliche Behagen, das wir bey dem wohlbehandelten Helldunkel farbloſer Ge- maͤlde und aͤhnlicher Kunſtwerke empfinden, vorzuͤglich aus dem gleichzeitigen Gewahrwerden eines Ganzen, das von dem Organ ſonſt nur in einer Folge mehr geſucht, als hervorgebracht wird, und wie es auch gelingen moͤge, niemals feſtgehalten werden kann.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/66
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/66>, abgerufen am 22.12.2024.