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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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74.

Wir haben diesen Apparat der Vorbilder, um zur
Gewißheit zu gelangen, bis ins Ueberflüssige vervielfäl-
tigt. Denn dadurch unterscheidet sich ja bloß der Ex-
perimentirende von dem, der zufällige Erscheinungen,
als wären's unzusammenhängende Begebenheiten, an-
blickt und anstaunt. Newton sucht dagegen seinen
Schüler immer nur an gewissen Bedingungen festzuhal-
ten, weil veränderte Bedingungen seiner Meynung nicht
günstig sind. Man kann daher die Newtonische Dar-
stellung einer perspectivisch gemalten Theaterdecoration
vergleichen, an der nur aus einem einzigen Standpuncte
alle Linien zusammentreffend und passend gesehen wer-
den. Aber Newton und seine Schüler leiden nicht, daß
man ein wenig zur Seite trete, um in die offnen Cou-
lissen zu sehen. Dabey versichern sie dem Zuschauer,
den sie auf seinem Stuhle festhalten, es sey eine wirk-
lich geschlossene und undurchdringliche Wand.

75.

Wir haben bisher referirt, wie wir die Sache bey
genauer Aufmerksamkeit gefunden; und man sieht wohl,
daß einerseits die Täuschung dadurch möglich ward,
daß Newton zwey farbige Flächen, eine helle und eine
dunkle mit einander vergleicht, und verlangt, daß die
dunkle leisten soll, was die helle leistet. Er führt sie
uns vor, nur als an Farbe verschieden, und macht uns
nicht aufmerksam, daß sie auch am Helldunkel verschie-

74.

Wir haben dieſen Apparat der Vorbilder, um zur
Gewißheit zu gelangen, bis ins Ueberfluͤſſige vervielfaͤl-
tigt. Denn dadurch unterſcheidet ſich ja bloß der Ex-
perimentirende von dem, der zufaͤllige Erſcheinungen,
als waͤren’s unzuſammenhaͤngende Begebenheiten, an-
blickt und anſtaunt. Newton ſucht dagegen ſeinen
Schuͤler immer nur an gewiſſen Bedingungen feſtzuhal-
ten, weil veraͤnderte Bedingungen ſeiner Meynung nicht
guͤnſtig ſind. Man kann daher die Newtoniſche Dar-
ſtellung einer perſpectiviſch gemalten Theaterdecoration
vergleichen, an der nur aus einem einzigen Standpuncte
alle Linien zuſammentreffend und paſſend geſehen wer-
den. Aber Newton und ſeine Schuͤler leiden nicht, daß
man ein wenig zur Seite trete, um in die offnen Cou-
liſſen zu ſehen. Dabey verſichern ſie dem Zuſchauer,
den ſie auf ſeinem Stuhle feſthalten, es ſey eine wirk-
lich geſchloſſene und undurchdringliche Wand.

75.

Wir haben bisher referirt, wie wir die Sache bey
genauer Aufmerkſamkeit gefunden; und man ſieht wohl,
daß einerſeits die Taͤuſchung dadurch moͤglich ward,
daß Newton zwey farbige Flaͤchen, eine helle und eine
dunkle mit einander vergleicht, und verlangt, daß die
dunkle leiſten ſoll, was die helle leiſtet. Er fuͤhrt ſie
uns vor, nur als an Farbe verſchieden, und macht uns
nicht aufmerkſam, daß ſie auch am Helldunkel verſchie-

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[396/0450] 74. Wir haben dieſen Apparat der Vorbilder, um zur Gewißheit zu gelangen, bis ins Ueberfluͤſſige vervielfaͤl- tigt. Denn dadurch unterſcheidet ſich ja bloß der Ex- perimentirende von dem, der zufaͤllige Erſcheinungen, als waͤren’s unzuſammenhaͤngende Begebenheiten, an- blickt und anſtaunt. Newton ſucht dagegen ſeinen Schuͤler immer nur an gewiſſen Bedingungen feſtzuhal- ten, weil veraͤnderte Bedingungen ſeiner Meynung nicht guͤnſtig ſind. Man kann daher die Newtoniſche Dar- ſtellung einer perſpectiviſch gemalten Theaterdecoration vergleichen, an der nur aus einem einzigen Standpuncte alle Linien zuſammentreffend und paſſend geſehen wer- den. Aber Newton und ſeine Schuͤler leiden nicht, daß man ein wenig zur Seite trete, um in die offnen Cou- liſſen zu ſehen. Dabey verſichern ſie dem Zuſchauer, den ſie auf ſeinem Stuhle feſthalten, es ſey eine wirk- lich geſchloſſene und undurchdringliche Wand. 75. Wir haben bisher referirt, wie wir die Sache bey genauer Aufmerkſamkeit gefunden; und man ſieht wohl, daß einerſeits die Taͤuſchung dadurch moͤglich ward, daß Newton zwey farbige Flaͤchen, eine helle und eine dunkle mit einander vergleicht, und verlangt, daß die dunkle leiſten ſoll, was die helle leiſtet. Er fuͤhrt ſie uns vor, nur als an Farbe verſchieden, und macht uns nicht aufmerkſam, daß ſie auch am Helldunkel verſchie-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/450>, abgerufen am 21.11.2024.