Die Fruchtbarkeit und Mannigfaltigkeit der persischen Dichter entspringt aus einer unübersehbaren Breite der Aussenwelt und ihrem unendlichen Reichthum. Ein immer bewegtes öffentliches Leben, in welchem alle Gegenstände gleichen Werth haben, wogt vor unserer Einbildungskraft, desswe- gen uns ihre Vergleichungen oft so sehr auffallend und missbeliebig sind. Ohne Be- denken verknüpfen sie die edelsten und nie- drigsten Bilder, an welches Verfahren wir uns nicht so leicht gewöhnen.
Sprechen wir es aber aufrichtig aus: ein eigentlicher Lebemann, der frey und praktisch athmet, hat kein ästhetisches Ge- fühl und keinen Geschmack, ihm genügt Realität im Handlen, Geniessen, Betrach- ten, eben so wie im Dichten; und wenn der Orientale, seltsame Wirkung hervorzu-
Allgemeines.
Die Fruchtbarkeit und Mannigfaltigkeit der persischen Dichter entspringt aus einer unübersehbaren Breite der Auſsenwelt und ihrem unendlichen Reichthum. Ein immer bewegtes öffentliches Leben, in welchem alle Gegenstände gleichen Werth haben, wogt vor unserer Einbildungskraft, deſswe- gen uns ihre Vergleichungen oft so sehr auffallend und miſsbeliebig sind. Ohne Be- denken verknüpfen sie die edelsten und nie- drigsten Bilder, an welches Verfahren wir uns nicht so leicht gewöhnen.
Sprechen wir es aber aufrichtig aus: ein eigentlicher Lebemann, der frey und praktisch athmet, hat kein ästhetisches Ge- fühl und keinen Geschmack, ihm genügt Realität im Handlen, Genieſsen, Betrach- ten, eben so wie im Dichten; und wenn der Orientale, seltsame Wirkung hervorzu-
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Allgemeines.
Die Fruchtbarkeit und Mannigfaltigkeit
der persischen Dichter entspringt aus einer
unübersehbaren Breite der Auſsenwelt und
ihrem unendlichen Reichthum. Ein immer
bewegtes öffentliches Leben, in welchem
alle Gegenstände gleichen Werth haben,
wogt vor unserer Einbildungskraft, deſswe-
gen uns ihre Vergleichungen oft so sehr
auffallend und miſsbeliebig sind. Ohne Be-
denken verknüpfen sie die edelsten und nie-
drigsten Bilder, an welches Verfahren wir
uns nicht so leicht gewöhnen.
Sprechen wir es aber aufrichtig aus:
ein eigentlicher Lebemann, der frey und
praktisch athmet, hat kein ästhetisches Ge-
fühl und keinen Geschmack, ihm genügt
Realität im Handlen, Genieſsen, Betrach-
ten, eben so wie im Dichten; und wenn
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/335>, abgerufen am 22.12.2024.
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