Gerstner, Franz Joseph von: Handbuch der Mechanik. Bd. 1: Mechanik fester Körper. Prag, 1831.Gewölbe nach der Kettenlinie. kunst (die Fälle sehr grosser Spannungen ausgenommen) auch in der Zukunft um somehr behaupten, als nicht nur der an die Formen der Alten gewöhnte Kunstgeschmack für dieselben spricht, sondern auch weil ihre Festigkeit durch zweckmässige Verhält- nisse in jedem Falle erreichbar ist, und durch häufige Beispiele bestättigt wird. Zur Ausmittlung dieser Verhältnisse gibt es zwei Wege; indem 1tens die gegebenen Bogenlinien hinlänglich beschwert und dadurch die Verhältnis- se, welche zwischen den Gewichten und den Tangenten der Stellungswinkel statt finden müssen, hergestellt, folglich die Bogenlinie durch angemessene Beschwe- rungen zur Stützlinie gemacht wird. Wenn aber 2tens sowohl die Gewichte der Gewölbsteine und die darauf ruhende Last, als auch ihre wechselseitige Stellung gegeneinander durch die Bogenlinie unabänderlich ge- geben ist, diese Linie aber z. B. ein Kreis oder eine Elypse, die Eigenschaft nicht besitzt, dass die Tangenten der Stellungswinkel den Gewichten proportional wer- den, so kann man ihre Festigkeit nur dadurch herstellen, indem innerhalb der Gewölbsteine diejenigen Stützlinien aufgesucht werden, denen die Ei- genschaft der vollkommenen Unterstützung zukommt, und an welchen die Gewölb- steine sodann nur als angehängt zu betrachten sind. Es wird nunmehr nur darauf ankommen, dass die Zahl dieser Stützlinien innerhalb §. 375. Die erste Aufgabe, welche wir nunmehr zu behandeln haben, betrifft die Untersu- *) Zur Beantwortung der Frage, wie jede krumme Linie durch eine angemessene Belastung zu einer stüt-
zenden Gewölbslinie gemacht werden könne, wollen wir als Beispiel zuerst die Kreislinie und im folgenden §. den elyptischen Bogen anführen.Fig. 7. Tab. 18. Es sey Fig. 7 der Halbmesser des Kreises A C = a und die Höhe der Belastung im Scheitel A B = h gegeben. Nennen wir die Höhe der Belastung für den Punkt M, nämlich M N = z und den Win- Gewölbe nach der Kettenlinie. kunst (die Fälle sehr grosser Spannungen ausgenommen) auch in der Zukunft um somehr behaupten, als nicht nur der an die Formen der Alten gewöhnte Kunstgeschmack für dieselben spricht, sondern auch weil ihre Festigkeit durch zweckmässige Verhält- nisse in jedem Falle erreichbar ist, und durch häufige Beispiele bestättigt wird. Zur Ausmittlung dieser Verhältnisse gibt es zwei Wege; indem 1tens die gegebenen Bogenlinien hinlänglich beschwert und dadurch die Verhältnis- se, welche zwischen den Gewichten und den Tangenten der Stellungswinkel statt finden müssen, hergestellt, folglich die Bogenlinie durch angemessene Beschwe- rungen zur Stützlinie gemacht wird. Wenn aber 2tens sowohl die Gewichte der Gewölbsteine und die darauf ruhende Last, als auch ihre wechselseitige Stellung gegeneinander durch die Bogenlinie unabänderlich ge- geben ist, diese Linie aber z. B. ein Kreis oder eine Elypse, die Eigenschaft nicht besitzt, dass die Tangenten der Stellungswinkel den Gewichten proportional wer- den, so kann man ihre Festigkeit nur dadurch herstellen, indem innerhalb der Gewölbsteine diejenigen Stützlinien aufgesucht werden, denen die Ei- genschaft der vollkommenen Unterstützung zukommt, und an welchen die Gewölb- steine sodann nur als angehängt zu betrachten sind. Es wird nunmehr nur darauf ankommen, dass die Zahl dieser Stützlinien innerhalb §. 375. Die erste Aufgabe, welche wir nunmehr zu behandeln haben, betrifft die Untersu- *) Zur Beantwortung der Frage, wie jede krumme Linie durch eine angemessene Belastung zu einer stüt-
zenden Gewölbslinie gemacht werden könne, wollen wir als Beispiel zuerst die Kreislinie und im folgenden §. den elyptischen Bogen anführen.Fig. 7. Tab. 18. Es sey Fig. 7 der Halbmesser des Kreises A C = a und die Höhe der Belastung im Scheitel A B = h gegeben. Nennen wir die Höhe der Belastung für den Punkt M, nämlich M N = z und den Win- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0443" n="413"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#i">Gewölbe nach der Kettenlinie</hi>.</fw><lb/> kunst (die Fälle sehr grosser Spannungen ausgenommen) auch in der Zukunft um so<lb/> mehr behaupten, als nicht nur der an die Formen der Alten gewöhnte Kunstgeschmack<lb/> für dieselben spricht, sondern auch weil ihre Festigkeit durch zweckmässige Verhält-<lb/> nisse in jedem Falle erreichbar ist, und durch häufige Beispiele bestättigt wird. Zur<lb/> Ausmittlung dieser Verhältnisse gibt es <hi rendition="#g">zwei Wege</hi>; indem</p><lb/> <list> <item><hi rendition="#g">1tens</hi> die gegebenen Bogenlinien hinlänglich beschwert und dadurch die Verhältnis-<lb/> se, welche zwischen den Gewichten und den Tangenten der Stellungswinkel statt<lb/> finden müssen, hergestellt, folglich die Bogenlinie durch angemessene Beschwe-<lb/> rungen zur Stützlinie gemacht wird. Wenn aber</item><lb/> <item><hi rendition="#g">2tens</hi> sowohl die Gewichte der Gewölbsteine und die darauf ruhende Last, als auch<lb/> ihre wechselseitige Stellung gegeneinander durch die Bogenlinie unabänderlich ge-<lb/> geben ist, diese Linie aber z. B. ein Kreis oder eine Elypse, die Eigenschaft nicht<lb/> besitzt, dass die Tangenten der Stellungswinkel den Gewichten proportional wer-<lb/> den, so kann man ihre Festigkeit nur dadurch herstellen, indem innerhalb der<lb/> Gewölbsteine diejenigen <hi rendition="#g">Stützlinien aufgesucht werden</hi>, denen die Ei-<lb/> genschaft der vollkommenen Unterstützung zukommt, und an welchen die Gewölb-<lb/> steine sodann nur als angehängt zu betrachten sind.</item> </list><lb/> <p>Es wird nunmehr nur darauf ankommen, dass die <hi rendition="#g">Zahl</hi> dieser Stützlinien innerhalb<lb/> der Masse des Gewölbes möglichst gross sey. Es erhellet nämlich von selbst, dass jedes<lb/> Gewölbe um so mehr Sicherheit gegen den Fall (Stabilität) besitzen werde, je mehr sol-<lb/> che Stützlinien innerhalb der Masse des Gewölbes statt finden können, oder je breiter<lb/> die Basis ist, mit welcher die Gewölbsteine sowohl auf einander wechselseitig, als auch<lb/> auf ihrer Widerlage ruhen. Dieser Begriff von Stabilität der Gewölbe ist demjenigen<lb/> analog, nach welchem wir den festen Stand aller Körper, die auf einer Stütze z. B. auf<lb/> einer aufrecht stehenden Säule ruhen, erkennen oder zu beurtheilen pflegen, denen wir<lb/> nämlich bei gleicher Höhe um so mehr Stabilität beimessen, je mehr Stützlinien innerhalb<lb/> der Basis Raum finden, oder je grösser die Fläche ist, auf welcher der Körper ruhet.<lb/> Der Unterschied zwischen beiden Vorstellungsarten besteht nur darin, dass die Stützli-<lb/> nien des auf einer Säule ruhenden Körpers gerade, senkrechte, innerhalb der Säule fort-<lb/> laufende Linien sind, wogegen bei Gewölben die Stützlinien gegen die beiderseitigen<lb/> Widerlagen nach schiefen Richtungen in krummen Linien fortlaufen, übrigens aber doch<lb/> in allen Punkten auf ihren Stützflächen winkelrecht stehen.</p> </div><lb/> <div n="3"> <head>§. 375.</head><lb/> <p>Die erste Aufgabe, welche wir nunmehr zu behandeln haben, betrifft die Untersu-<lb/> chung, <hi rendition="#g">wie der Kreis- und der elyptische Bogen zu Stützlinien ge-<lb/> macht werden können</hi>. <note xml:id="note-0443" next="#note-0444" place="foot" n="*)">Zur Beantwortung der Frage, wie jede krumme Linie durch eine angemessene Belastung zu einer stüt-<lb/> zenden Gewölbslinie gemacht werden könne, wollen wir als Beispiel zuerst die <hi rendition="#g">Kreislinie</hi> und<lb/> im folgenden §. den <hi rendition="#g">elyptischen Bogen</hi> anführen.<note place="right">Fig.<lb/> 7.<lb/> Tab.<lb/> 18.</note><lb/> Es sey Fig. 7 der Halbmesser des Kreises A C = a und die Höhe der Belastung im Scheitel A B = h<lb/> gegeben. Nennen wir die Höhe der Belastung für den Punkt M, nämlich M N = z und den Win-</note></p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [413/0443]
Gewölbe nach der Kettenlinie.
kunst (die Fälle sehr grosser Spannungen ausgenommen) auch in der Zukunft um so
mehr behaupten, als nicht nur der an die Formen der Alten gewöhnte Kunstgeschmack
für dieselben spricht, sondern auch weil ihre Festigkeit durch zweckmässige Verhält-
nisse in jedem Falle erreichbar ist, und durch häufige Beispiele bestättigt wird. Zur
Ausmittlung dieser Verhältnisse gibt es zwei Wege; indem
1tens die gegebenen Bogenlinien hinlänglich beschwert und dadurch die Verhältnis-
se, welche zwischen den Gewichten und den Tangenten der Stellungswinkel statt
finden müssen, hergestellt, folglich die Bogenlinie durch angemessene Beschwe-
rungen zur Stützlinie gemacht wird. Wenn aber
2tens sowohl die Gewichte der Gewölbsteine und die darauf ruhende Last, als auch
ihre wechselseitige Stellung gegeneinander durch die Bogenlinie unabänderlich ge-
geben ist, diese Linie aber z. B. ein Kreis oder eine Elypse, die Eigenschaft nicht
besitzt, dass die Tangenten der Stellungswinkel den Gewichten proportional wer-
den, so kann man ihre Festigkeit nur dadurch herstellen, indem innerhalb der
Gewölbsteine diejenigen Stützlinien aufgesucht werden, denen die Ei-
genschaft der vollkommenen Unterstützung zukommt, und an welchen die Gewölb-
steine sodann nur als angehängt zu betrachten sind.
Es wird nunmehr nur darauf ankommen, dass die Zahl dieser Stützlinien innerhalb
der Masse des Gewölbes möglichst gross sey. Es erhellet nämlich von selbst, dass jedes
Gewölbe um so mehr Sicherheit gegen den Fall (Stabilität) besitzen werde, je mehr sol-
che Stützlinien innerhalb der Masse des Gewölbes statt finden können, oder je breiter
die Basis ist, mit welcher die Gewölbsteine sowohl auf einander wechselseitig, als auch
auf ihrer Widerlage ruhen. Dieser Begriff von Stabilität der Gewölbe ist demjenigen
analog, nach welchem wir den festen Stand aller Körper, die auf einer Stütze z. B. auf
einer aufrecht stehenden Säule ruhen, erkennen oder zu beurtheilen pflegen, denen wir
nämlich bei gleicher Höhe um so mehr Stabilität beimessen, je mehr Stützlinien innerhalb
der Basis Raum finden, oder je grösser die Fläche ist, auf welcher der Körper ruhet.
Der Unterschied zwischen beiden Vorstellungsarten besteht nur darin, dass die Stützli-
nien des auf einer Säule ruhenden Körpers gerade, senkrechte, innerhalb der Säule fort-
laufende Linien sind, wogegen bei Gewölben die Stützlinien gegen die beiderseitigen
Widerlagen nach schiefen Richtungen in krummen Linien fortlaufen, übrigens aber doch
in allen Punkten auf ihren Stützflächen winkelrecht stehen.
§. 375.
Die erste Aufgabe, welche wir nunmehr zu behandeln haben, betrifft die Untersu-
chung, wie der Kreis- und der elyptische Bogen zu Stützlinien ge-
macht werden können. *)
*) Zur Beantwortung der Frage, wie jede krumme Linie durch eine angemessene Belastung zu einer stüt-
zenden Gewölbslinie gemacht werden könne, wollen wir als Beispiel zuerst die Kreislinie und
im folgenden §. den elyptischen Bogen anführen.
Es sey Fig. 7 der Halbmesser des Kreises A C = a und die Höhe der Belastung im Scheitel A B = h
gegeben. Nennen wir die Höhe der Belastung für den Punkt M, nämlich M N = z und den Win-
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