Man hat gegen die Anwendung der Kettenlinie bei Gewölben eingewendet, dass der Winkel, den die Kettenlinie an ihren Endpunkten bei q und q' mit dem Horizonte bildet, immer kleiner als 90 Grad ausfällt, und demnach eine dem Auge missfällige Form darstelle. Diesem Uibelstande kann sehr leicht dadurch abgeholfen werden, indem man aus zwei beliebigen, und von dem Mittelpunkte der Linie q q' gleichweit entfernten Punkten t und t' die Kreisbögen r s und r' s' zieht, welche sich oberhalb mit den Lehrbögen verlaufen und unterhalb, d. h. an ihren End- punkten s und s' so wie ein jedes Kreisgewölbe senkrecht stehen, demnach mit der innern Seite der Widerlagsmauer eine gerade Linie bilden.
Dabei ist aber zu bemerken, dass der Druck der Gewölbsteine dessen ungeachtet im- mer der Kettenlinie q p und q' p' folgen, und wenn man dieselbe bis an das unterste En- de der Widerlagsmauern oder bis auf den Grundbau bei u und u' verlängert, zugleich die Stützpunkte u und u' auf dem Grundmauerwerke angeben werde.
Es ist offenbar, dass wenn auf solche Art das Gewölbe nach der Richtung der Ket- tenlinie bis auf die Grundmauern fortgeführt würde, selbes ohne allen Mörtelverband und ohne stärkere Widerlagen als die Dicke a a' des Gewölbes im Scheitel beträgt, be- stehen könnte, wenn nicht etwa von Seite des Materials ein Zerdrücken desselben zu be- fürchten wäre. Man pflegt daher in dieser Hinsicht den Widerlagsmauern immer eine solche Stärke zu geben, dass in denselben nicht nur das mit gleicher Dicke a a' fortlau- fende Gewölbe eingeschlossen wird, sondern auch zur Vermehrung der Stabilität noch eine grössere Basis als a a', nämlich y z und y' z' in der Mauer M N O P und M' N' O' P' vorhanden sey. Die Stützlinie q u befindet sich auf solche Art innerhalb der ganzen Mauer M N O P, wovon die innere r s P z zur Stützung des Gewölbes nichts beiträgt, da- gegen aber die äussere O M N q durch ihr Gewicht dem Gewichte des Gewölbes zuwächst, folglich den Stützpunkt u noch näher gegen die Mitte der Mauer O P versetzt. Da je- doch auch die innere Mauer mit dem darin fortlaufenden stützenden Gewölbbogen durch Steine und Mörtel verbunden wird, so vermehrt sie auch in dieser Hinsicht die Festigkeit des Gewölbes, welches um so nothwendiger ist, weil die Mauern durch Fenster und Thüren wieder geschwächt werden.
Wir bemerken schlüsslich, dass diese Theorie der Kettengewölbe desshalb ausführli- cher behandelt wurde, um aus derselben überhaupt eine deutlichere Ansicht über die wechselseitige Wirkung der Gewölbsteine sowohl als auch der Widerlagsmauern entneh- men zu können.
§. 374.
So gross übrigens die Vortheile solcher Wölbungslinien seyn mögen, deren Lehrbö- gen zugleich dem Gewölbe zur Unterstüzung dienen, so wird doch die Schwierigkeit, diese Lehrbögen gehörig zu zeichnen, bei den Baumeistern immer einige Anstände fin- den, und eine Anweisung für die Bauleute, wie in diesem Falle die Gewölbsteine für solche Bogenlinien gehörig zu behauen, und in das Gewölbe einzustellen wären, dürfte noch grössern Schwierigkeiten unterliegen. Die Kreisbögen und die gedrückten oder elyptischen Bögen werden demnach ihre bisherige Anwendung in der Bau-
Gewölbe nach der Kettenlinie.
§. 373.
Fig. 6. Tab. 18.
Man hat gegen die Anwendung der Kettenlinie bei Gewölben eingewendet, dass der Winkel, den die Kettenlinie an ihren Endpunkten bei q und q' mit dem Horizonte bildet, immer kleiner als 90 Grad ausfällt, und demnach eine dem Auge missfällige Form darstelle. Diesem Uibelstande kann sehr leicht dadurch abgeholfen werden, indem man aus zwei beliebigen, und von dem Mittelpunkte der Linie q q' gleichweit entfernten Punkten t und t' die Kreisbögen r s und r' s' zieht, welche sich oberhalb mit den Lehrbögen verlaufen und unterhalb, d. h. an ihren End- punkten s und s' so wie ein jedes Kreisgewölbe senkrecht stehen, demnach mit der innern Seite der Widerlagsmauer eine gerade Linie bilden.
Dabei ist aber zu bemerken, dass der Druck der Gewölbsteine dessen ungeachtet im- mer der Kettenlinie q p und q' p' folgen, und wenn man dieselbe bis an das unterste En- de der Widerlagsmauern oder bis auf den Grundbau bei u und u' verlängert, zugleich die Stützpunkte u und u' auf dem Grundmauerwerke angeben werde.
Es ist offenbar, dass wenn auf solche Art das Gewölbe nach der Richtung der Ket- tenlinie bis auf die Grundmauern fortgeführt würde, selbes ohne allen Mörtelverband und ohne stärkere Widerlagen als die Dicke a a' des Gewölbes im Scheitel beträgt, be- stehen könnte, wenn nicht etwa von Seite des Materials ein Zerdrücken desselben zu be- fürchten wäre. Man pflegt daher in dieser Hinsicht den Widerlagsmauern immer eine solche Stärke zu geben, dass in denselben nicht nur das mit gleicher Dicke a a' fortlau- fende Gewölbe eingeschlossen wird, sondern auch zur Vermehrung der Stabilität noch eine grössere Basis als a a', nämlich y z und y' z' in der Mauer M N O P und M' N' O' P' vorhanden sey. Die Stützlinie q u befindet sich auf solche Art innerhalb der ganzen Mauer M N O P, wovon die innere r s P z zur Stützung des Gewölbes nichts beiträgt, da- gegen aber die äussere O M N q durch ihr Gewicht dem Gewichte des Gewölbes zuwächst, folglich den Stützpunkt u noch näher gegen die Mitte der Mauer O P versetzt. Da je- doch auch die innere Mauer mit dem darin fortlaufenden stützenden Gewölbbogen durch Steine und Mörtel verbunden wird, so vermehrt sie auch in dieser Hinsicht die Festigkeit des Gewölbes, welches um so nothwendiger ist, weil die Mauern durch Fenster und Thüren wieder geschwächt werden.
Wir bemerken schlüsslich, dass diese Theorie der Kettengewölbe desshalb ausführli- cher behandelt wurde, um aus derselben überhaupt eine deutlichere Ansicht über die wechselseitige Wirkung der Gewölbsteine sowohl als auch der Widerlagsmauern entneh- men zu können.
§. 374.
So gross übrigens die Vortheile solcher Wölbungslinien seyn mögen, deren Lehrbö- gen zugleich dem Gewölbe zur Unterstüzung dienen, so wird doch die Schwierigkeit, diese Lehrbögen gehörig zu zeichnen, bei den Baumeistern immer einige Anstände fin- den, und eine Anweisung für die Bauleute, wie in diesem Falle die Gewölbsteine für solche Bogenlinien gehörig zu behauen, und in das Gewölbe einzustellen wären, dürfte noch grössern Schwierigkeiten unterliegen. Die Kreisbögen und die gedrückten oder elyptischen Bögen werden demnach ihre bisherige Anwendung in der Bau-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0442"n="412"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#i">Gewölbe nach der Kettenlinie</hi>.</fw><lb/><divn="3"><head>§. 373.</head><lb/><noteplace="left">Fig.<lb/>
6.<lb/>
Tab.<lb/>
18.</note><p>Man hat gegen die Anwendung der Kettenlinie bei Gewölben eingewendet, <hirendition="#g">dass<lb/>
der Winkel, den die Kettenlinie an ihren Endpunkten bei q und q'<lb/>
mit dem Horizonte bildet, immer kleiner als</hi> 90 <hirendition="#g">Grad ausfällt</hi>, und<lb/>
demnach eine dem Auge missfällige Form darstelle. Diesem Uibelstande kann sehr leicht<lb/>
dadurch abgeholfen werden, indem man aus zwei beliebigen, und von dem Mittelpunkte<lb/>
der Linie q q' gleichweit entfernten Punkten t und t' die Kreisbögen r s und r' s' zieht,<lb/>
welche sich oberhalb mit den Lehrbögen verlaufen und unterhalb, d. h. an ihren End-<lb/>
punkten s und s' so wie ein jedes Kreisgewölbe senkrecht stehen, demnach mit der innern<lb/>
Seite der Widerlagsmauer eine gerade Linie bilden.</p><lb/><p>Dabei ist aber zu bemerken, dass der Druck der Gewölbsteine dessen ungeachtet im-<lb/>
mer der Kettenlinie q p und q' p' folgen, und wenn man dieselbe bis an das unterste En-<lb/>
de der Widerlagsmauern oder bis auf den Grundbau bei u und u' verlängert, zugleich die<lb/><hirendition="#g">Stützpunkte</hi> u und u' <hirendition="#g">auf dem Grundmauerwerke</hi> angeben werde.</p><lb/><p>Es ist offenbar, dass wenn auf solche Art das Gewölbe nach der Richtung der Ket-<lb/>
tenlinie bis auf die Grundmauern fortgeführt würde, selbes ohne allen Mörtelverband<lb/>
und ohne stärkere Widerlagen als die Dicke a a' des Gewölbes im Scheitel beträgt, be-<lb/>
stehen könnte, wenn nicht etwa von Seite des Materials ein Zerdrücken desselben zu be-<lb/>
fürchten wäre. Man pflegt daher in dieser Hinsicht den Widerlagsmauern immer eine<lb/>
solche Stärke zu geben, dass in denselben nicht nur das mit gleicher Dicke a a' fortlau-<lb/>
fende Gewölbe eingeschlossen wird, sondern auch zur Vermehrung der Stabilität noch<lb/>
eine grössere Basis als a a', nämlich y z und y' z' in der Mauer M N O P und M' N' O' P'<lb/>
vorhanden sey. Die Stützlinie q u befindet sich auf solche Art innerhalb der ganzen<lb/>
Mauer M N O P, wovon die innere r s P z zur Stützung des Gewölbes nichts beiträgt, da-<lb/>
gegen aber die äussere O M N q durch ihr Gewicht dem Gewichte des Gewölbes zuwächst,<lb/>
folglich den Stützpunkt u noch näher gegen die Mitte der Mauer O P versetzt. Da je-<lb/>
doch auch die innere Mauer mit dem darin fortlaufenden stützenden Gewölbbogen durch<lb/>
Steine und Mörtel verbunden wird, so vermehrt sie auch in dieser Hinsicht die Festigkeit<lb/>
des Gewölbes, welches um so nothwendiger ist, weil die Mauern durch Fenster und<lb/>
Thüren wieder geschwächt werden.</p><lb/><p>Wir bemerken schlüsslich, dass diese Theorie der Kettengewölbe desshalb ausführli-<lb/>
cher behandelt wurde, um aus derselben überhaupt eine deutlichere Ansicht über die<lb/>
wechselseitige Wirkung der Gewölbsteine sowohl als auch der Widerlagsmauern entneh-<lb/>
men zu können.</p></div><lb/><divn="3"><head>§. 374.</head><lb/><p>So gross übrigens die Vortheile solcher Wölbungslinien seyn mögen, deren Lehrbö-<lb/>
gen zugleich dem Gewölbe zur Unterstüzung dienen, so wird doch die Schwierigkeit,<lb/>
diese Lehrbögen gehörig zu zeichnen, bei den Baumeistern immer einige Anstände fin-<lb/>
den, und eine Anweisung für die Bauleute, wie in diesem Falle die Gewölbsteine für<lb/>
solche Bogenlinien gehörig zu behauen, und in das Gewölbe einzustellen wären, dürfte<lb/>
noch grössern Schwierigkeiten unterliegen. Die <hirendition="#g">Kreisbögen</hi> und die <hirendition="#g">gedrückten</hi><lb/>
oder <hirendition="#g">elyptischen Bögen</hi> werden demnach ihre bisherige Anwendung in der Bau-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[412/0442]
Gewölbe nach der Kettenlinie.
§. 373.
Man hat gegen die Anwendung der Kettenlinie bei Gewölben eingewendet, dass
der Winkel, den die Kettenlinie an ihren Endpunkten bei q und q'
mit dem Horizonte bildet, immer kleiner als 90 Grad ausfällt, und
demnach eine dem Auge missfällige Form darstelle. Diesem Uibelstande kann sehr leicht
dadurch abgeholfen werden, indem man aus zwei beliebigen, und von dem Mittelpunkte
der Linie q q' gleichweit entfernten Punkten t und t' die Kreisbögen r s und r' s' zieht,
welche sich oberhalb mit den Lehrbögen verlaufen und unterhalb, d. h. an ihren End-
punkten s und s' so wie ein jedes Kreisgewölbe senkrecht stehen, demnach mit der innern
Seite der Widerlagsmauer eine gerade Linie bilden.
Dabei ist aber zu bemerken, dass der Druck der Gewölbsteine dessen ungeachtet im-
mer der Kettenlinie q p und q' p' folgen, und wenn man dieselbe bis an das unterste En-
de der Widerlagsmauern oder bis auf den Grundbau bei u und u' verlängert, zugleich die
Stützpunkte u und u' auf dem Grundmauerwerke angeben werde.
Es ist offenbar, dass wenn auf solche Art das Gewölbe nach der Richtung der Ket-
tenlinie bis auf die Grundmauern fortgeführt würde, selbes ohne allen Mörtelverband
und ohne stärkere Widerlagen als die Dicke a a' des Gewölbes im Scheitel beträgt, be-
stehen könnte, wenn nicht etwa von Seite des Materials ein Zerdrücken desselben zu be-
fürchten wäre. Man pflegt daher in dieser Hinsicht den Widerlagsmauern immer eine
solche Stärke zu geben, dass in denselben nicht nur das mit gleicher Dicke a a' fortlau-
fende Gewölbe eingeschlossen wird, sondern auch zur Vermehrung der Stabilität noch
eine grössere Basis als a a', nämlich y z und y' z' in der Mauer M N O P und M' N' O' P'
vorhanden sey. Die Stützlinie q u befindet sich auf solche Art innerhalb der ganzen
Mauer M N O P, wovon die innere r s P z zur Stützung des Gewölbes nichts beiträgt, da-
gegen aber die äussere O M N q durch ihr Gewicht dem Gewichte des Gewölbes zuwächst,
folglich den Stützpunkt u noch näher gegen die Mitte der Mauer O P versetzt. Da je-
doch auch die innere Mauer mit dem darin fortlaufenden stützenden Gewölbbogen durch
Steine und Mörtel verbunden wird, so vermehrt sie auch in dieser Hinsicht die Festigkeit
des Gewölbes, welches um so nothwendiger ist, weil die Mauern durch Fenster und
Thüren wieder geschwächt werden.
Wir bemerken schlüsslich, dass diese Theorie der Kettengewölbe desshalb ausführli-
cher behandelt wurde, um aus derselben überhaupt eine deutlichere Ansicht über die
wechselseitige Wirkung der Gewölbsteine sowohl als auch der Widerlagsmauern entneh-
men zu können.
§. 374.
So gross übrigens die Vortheile solcher Wölbungslinien seyn mögen, deren Lehrbö-
gen zugleich dem Gewölbe zur Unterstüzung dienen, so wird doch die Schwierigkeit,
diese Lehrbögen gehörig zu zeichnen, bei den Baumeistern immer einige Anstände fin-
den, und eine Anweisung für die Bauleute, wie in diesem Falle die Gewölbsteine für
solche Bogenlinien gehörig zu behauen, und in das Gewölbe einzustellen wären, dürfte
noch grössern Schwierigkeiten unterliegen. Die Kreisbögen und die gedrückten
oder elyptischen Bögen werden demnach ihre bisherige Anwendung in der Bau-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Gerstner, Franz Joseph von: Handbuch der Mechanik. Bd. 1: Mechanik fester Körper. Prag, 1831, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerstner_mechanik01_1831/442>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.