Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868.§ 20. Aussterbende und ausdauernde Naturvölker. Wenn die Annahme einer minderen Lebensfähigkeit ganzer Völker richtig wäre, so müsste doch bei allen diesen Völkern sich jenes Hinschwinden gleichmässig zeigen. Wie kommt es aber, dass eins ausstirbt und das andere dicht daneben nicht? ja, dass von ein und demselben Volke der eine Zweig abstirbt, der andere ungefährdet weiter lebt? Und auch das findet sich oft. Die Tonganer sterben nicht aus und sind Polynesier wie die Tahitier, Maoris oder Kanakas; die meisten mikronesischen Inseln (so namentlich der Gilbertarchipel) haben eine dichte Bevölkerung, die Kusaier sterben aus; und beide, Mikro- und Polynesier, sind nur ein Zweig des grossen malaiischen Stammes, bei welchem ein solches Hinschwinden, die kleine Insel Engano und einige elende in die Gebirge gedrängte Stämme ausgenommen, sonst doch nirgends bemerkt wird. Die Kamtschadalen sterben aus, die übrigen Nordasiaten, ihre nahen Verwandten, nicht. Doch vielleicht waren hier jene von uns besprochenen Gründe des Aussterbens nicht in Thätigkeit? Allein während die übrigen Melanesier an vielen Punkten sich vermindern, bleiben die Fidschis, trotz des europäischen Einflusses, trotz ihrer Kriege und Menschenopfer, kräftig und bei voller Zahl. Noch ärger fast als alle anderen Völker sind die Neger bedrückt von einheimischen und fremden Tyrannen; und während sie für einen der fruchtbarsten Stämme gelten, der gar nicht zu vermindern ist, sterben die Neuholländer, nach dem Kärtchen bei Carus Nachtmenschen wie sie, aus -- welchem Fall freilich der ethnologische Unsinn, afrikanische und melanesische Neger zu einer Race zu vereinigen, der sich indess nicht bei Carus allein findet, die Beweiskraft nimmt. Aber die anderen Beispiele zeigen vollkommen schlagend, wie irrig die Ansicht ist, dass die hinschwindenden Völker in Folge der Inferiorität ihrer Race ausstürben; daher wir dabei nicht zu verweilen brauchen. Wenn unsere Ansicht aber stichhaltig ist, so muss sich nachweisen lassen, dass da, wo die Gründe, aus denen wir das Aussterben der Naturvölker erklären, nicht eintreten oder beseitigt werden, dass da die Völker gedeihen, sich weiter entwickeln oder sich wieder erholen, ja selbst die so gefährliche Kultur überwinden und sich zu ihr, wenn auch nur sehr allmählich, emporheben können. Und der Nachweis ist leicht. In Afrika beweisen es die Hottentotten der herrnhutischen Kolonie Baavianskloof, welche Lichtenstein schildert. 1799 betrug die Zahl ihrer Lehrlinge (Licht. 1, 247) 100; das Dorf, worin sie wohnten, glich mit seinen 200 Häusern, seinen Gärten, seinen geraden Strassen ganz einem deutschen Dorfe; die Hottentotten waren tüchtig im Feld- und Hausbau und zu allem dem gebracht ganz ohne andere Strafe als Ausschliessung vom Gottesdienst (251). Die Taufe erhielt § 20. Aussterbende und ausdauernde Naturvölker. Wenn die Annahme einer minderen Lebensfähigkeit ganzer Völker richtig wäre, so müsste doch bei allen diesen Völkern sich jenes Hinschwinden gleichmässig zeigen. Wie kommt es aber, dass eins ausstirbt und das andere dicht daneben nicht? ja, dass von ein und demselben Volke der eine Zweig abstirbt, der andere ungefährdet weiter lebt? Und auch das findet sich oft. Die Tonganer sterben nicht aus und sind Polynesier wie die Tahitier, Maoris oder Kanakas; die meisten mikronesischen Inseln (so namentlich der Gilbertarchipel) haben eine dichte Bevölkerung, die Kusaier sterben aus; und beide, Mikro- und Polynesier, sind nur ein Zweig des grossen malaiischen Stammes, bei welchem ein solches Hinschwinden, die kleine Insel Engano und einige elende in die Gebirge gedrängte Stämme ausgenommen, sonst doch nirgends bemerkt wird. Die Kamtschadalen sterben aus, die übrigen Nordasiaten, ihre nahen Verwandten, nicht. Doch vielleicht waren hier jene von uns besprochenen Gründe des Aussterbens nicht in Thätigkeit? Allein während die übrigen Melanesier an vielen Punkten sich vermindern, bleiben die Fidschis, trotz des europäischen Einflusses, trotz ihrer Kriege und Menschenopfer, kräftig und bei voller Zahl. Noch ärger fast als alle anderen Völker sind die Neger bedrückt von einheimischen und fremden Tyrannen; und während sie für einen der fruchtbarsten Stämme gelten, der gar nicht zu vermindern ist, sterben die Neuholländer, nach dem Kärtchen bei Carus Nachtmenschen wie sie, aus — welchem Fall freilich der ethnologische Unsinn, afrikanische und melanesische Neger zu einer Raçe zu vereinigen, der sich indess nicht bei Carus allein findet, die Beweiskraft nimmt. Aber die anderen Beispiele zeigen vollkommen schlagend, wie irrig die Ansicht ist, dass die hinschwindenden Völker in Folge der Inferiorität ihrer Raçe ausstürben; daher wir dabei nicht zu verweilen brauchen. Wenn unsere Ansicht aber stichhaltig ist, so muss sich nachweisen lassen, dass da, wo die Gründe, aus denen wir das Aussterben der Naturvölker erklären, nicht eintreten oder beseitigt werden, dass da die Völker gedeihen, sich weiter entwickeln oder sich wieder erholen, ja selbst die so gefährliche Kultur überwinden und sich zu ihr, wenn auch nur sehr allmählich, emporheben können. Und der Nachweis ist leicht. In Afrika beweisen es die Hottentotten der herrnhutischen Kolonie Baavianskloof, welche Lichtenstein schildert. 1799 betrug die Zahl ihrer Lehrlinge (Licht. 1, 247) 100; das Dorf, worin sie wohnten, glich mit seinen 200 Häusern, seinen Gärten, seinen geraden Strassen ganz einem deutschen Dorfe; die Hottentotten waren tüchtig im Feld- und Hausbau und zu allem dem gebracht ganz ohne andere Strafe als Ausschliessung vom Gottesdienst (251). 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Die Tonganer sterben nicht aus und sind Polynesier wie die Tahitier, Maoris oder Kanakas; die meisten mikronesischen Inseln (so namentlich der Gilbertarchipel) haben eine dichte Bevölkerung, die Kusaier sterben aus; und beide, Mikro- und Polynesier, sind nur ein Zweig des grossen malaiischen Stammes, bei welchem ein solches Hinschwinden, die kleine Insel Engano und einige elende in die Gebirge gedrängte Stämme ausgenommen, sonst doch nirgends bemerkt wird. Die Kamtschadalen sterben aus, die übrigen Nordasiaten, ihre nahen Verwandten, nicht. Doch vielleicht waren hier jene von uns besprochenen Gründe des Aussterbens nicht in Thätigkeit? Allein während die übrigen Melanesier an vielen Punkten sich vermindern, bleiben die Fidschis, trotz des europäischen Einflusses, trotz ihrer Kriege und Menschenopfer, kräftig und bei voller Zahl. Noch ärger fast als alle anderen Völker sind die Neger bedrückt von einheimischen und fremden Tyrannen; und während sie für einen der fruchtbarsten Stämme gelten, der gar nicht zu vermindern ist, sterben die Neuholländer, nach dem Kärtchen bei Carus Nachtmenschen wie sie, aus — welchem Fall freilich der ethnologische Unsinn, afrikanische und melanesische Neger zu einer Raçe zu vereinigen, der sich indess nicht bei Carus allein findet, die Beweiskraft nimmt. Aber die anderen Beispiele zeigen vollkommen schlagend, wie irrig die Ansicht ist, dass die hinschwindenden Völker in Folge der Inferiorität ihrer Raçe ausstürben; daher wir dabei nicht zu verweilen brauchen. Wenn unsere Ansicht aber stichhaltig ist, so muss sich nachweisen lassen, dass da, wo die Gründe, aus denen wir das Aussterben der Naturvölker erklären, nicht eintreten oder beseitigt werden, dass da die Völker gedeihen, sich weiter entwickeln oder sich wieder erholen, ja selbst die so gefährliche Kultur überwinden und sich zu ihr, wenn auch nur sehr allmählich, emporheben können. Und der Nachweis ist leicht.</p> <p>In Afrika beweisen es die Hottentotten der herrnhutischen Kolonie Baavianskloof, welche Lichtenstein schildert. 1799 betrug die Zahl ihrer Lehrlinge (Licht. 1, 247) 100; das Dorf, worin sie wohnten, glich mit seinen 200 Häusern, seinen Gärten, seinen geraden Strassen ganz einem deutschen Dorfe; die Hottentotten waren tüchtig im Feld- und Hausbau und zu allem dem gebracht ganz ohne andere Strafe als Ausschliessung vom Gottesdienst (251). Die Taufe erhielt </p> </div> </body> </text> </TEI> [0137]
§ 20. Aussterbende und ausdauernde Naturvölker.
Wenn die Annahme einer minderen Lebensfähigkeit ganzer Völker richtig wäre, so müsste doch bei allen diesen Völkern sich jenes Hinschwinden gleichmässig zeigen. Wie kommt es aber, dass eins ausstirbt und das andere dicht daneben nicht? ja, dass von ein und demselben Volke der eine Zweig abstirbt, der andere ungefährdet weiter lebt? Und auch das findet sich oft. Die Tonganer sterben nicht aus und sind Polynesier wie die Tahitier, Maoris oder Kanakas; die meisten mikronesischen Inseln (so namentlich der Gilbertarchipel) haben eine dichte Bevölkerung, die Kusaier sterben aus; und beide, Mikro- und Polynesier, sind nur ein Zweig des grossen malaiischen Stammes, bei welchem ein solches Hinschwinden, die kleine Insel Engano und einige elende in die Gebirge gedrängte Stämme ausgenommen, sonst doch nirgends bemerkt wird. Die Kamtschadalen sterben aus, die übrigen Nordasiaten, ihre nahen Verwandten, nicht. Doch vielleicht waren hier jene von uns besprochenen Gründe des Aussterbens nicht in Thätigkeit? Allein während die übrigen Melanesier an vielen Punkten sich vermindern, bleiben die Fidschis, trotz des europäischen Einflusses, trotz ihrer Kriege und Menschenopfer, kräftig und bei voller Zahl. Noch ärger fast als alle anderen Völker sind die Neger bedrückt von einheimischen und fremden Tyrannen; und während sie für einen der fruchtbarsten Stämme gelten, der gar nicht zu vermindern ist, sterben die Neuholländer, nach dem Kärtchen bei Carus Nachtmenschen wie sie, aus — welchem Fall freilich der ethnologische Unsinn, afrikanische und melanesische Neger zu einer Raçe zu vereinigen, der sich indess nicht bei Carus allein findet, die Beweiskraft nimmt. Aber die anderen Beispiele zeigen vollkommen schlagend, wie irrig die Ansicht ist, dass die hinschwindenden Völker in Folge der Inferiorität ihrer Raçe ausstürben; daher wir dabei nicht zu verweilen brauchen. Wenn unsere Ansicht aber stichhaltig ist, so muss sich nachweisen lassen, dass da, wo die Gründe, aus denen wir das Aussterben der Naturvölker erklären, nicht eintreten oder beseitigt werden, dass da die Völker gedeihen, sich weiter entwickeln oder sich wieder erholen, ja selbst die so gefährliche Kultur überwinden und sich zu ihr, wenn auch nur sehr allmählich, emporheben können. Und der Nachweis ist leicht.
In Afrika beweisen es die Hottentotten der herrnhutischen Kolonie Baavianskloof, welche Lichtenstein schildert. 1799 betrug die Zahl ihrer Lehrlinge (Licht. 1, 247) 100; das Dorf, worin sie wohnten, glich mit seinen 200 Häusern, seinen Gärten, seinen geraden Strassen ganz einem deutschen Dorfe; die Hottentotten waren tüchtig im Feld- und Hausbau und zu allem dem gebracht ganz ohne andere Strafe als Ausschliessung vom Gottesdienst (251). Die Taufe erhielt
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