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Ganswindt, Albert: Handbuch der Färberei und der damit verwandten vorbereitenden und vollendenden Gewerbe. Weimar, 1889.

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trocknete und gedörrte Stengel mittels Brechmaschinen geknickt und entholzt
wird. Dann folgt eine dem Schwingen des Flachses ähnliche Operation.
Die so gewonnene Ramie ist die Rohfaser in Form aneinander klebender,
gelblichbrauner, geschwungenem Flachs nicht unähnlicher Fasern.

Die Befreiung der Ramiefaser von den die Cellulose inkrustierenden
Substanzen geschieht neuerdings in Frankreich nach einem patentierten Ver-
fahren von Schiefer, indem die Faser unter Druck und unter Einwirkung
von Chemikalien in einem besonders konstruierten Kessel gekocht wird. Nach
beendeter Operation wird die Faser getrocknet, gekämmt, und auf Maschinen,
welche denen in der Baumwollspinnerei ganz ähnlich sind (eventuell nach
vorherigem Bleichen) versponnen und verwebt. Bei rationeller Gewinnung
der Faser gibt dieselbe (nach Eugene Schiefer) 28 bis 30 Prozent vom
Rohstengelgewicht.

Eigenschaften. Die so gewonnene Faser ist weiß und besitzt fast
alle Eigenschaften des Chinagrases, sie besitzt aber eine geringere Biegsam-
keit und ist glanzlos. Die Länge der Faser ist 6 bis 8 cm, die Dicke 0,016
bis 0,126 mm; das Lumen ist bald enger, bald weiter, oft bis zu 4/5 des
Zelldurchmessers.

Die chemische Zusammensetzung und das chemische Verhalten
der Ramiefaser stimmen mit dem Chinagras vollkommen überein, auch die
Kriterien für die Wertbestimmung sind die gleichen wie beim Chinagras,
nur daß man hier diejenige Ramiefaser für die beste wird halten müssen,
welche in Bezug auf Biegsamkeit und Glanz dem Chinagras möglichst nahe
kommt.

Formen, in denen die Ramiefaser zum Färben kommt. Ab-
gesehen von der unversponnenen Faser ist besonders das aus der Ramiefaser
gesponnene Garn, das Nesselgarn, von Wichtigkeit, welches in vieler Hin-
sicht dem Baumwollgarn ähnlich sich verhält. Die glatten, leinwandartig
gewebten Stoffe führen den Namen Nessel, und werden vielfach als Futter-
stoffe (Futternessel) verwendet.

Chinagras und Ramie werden vielfach für gleichbedeutend ange-
sehen; sogar v. Höhnel bezeichnet in seinem neuen Werke: "Mikroskopie
der technisch verwendeten Faserstoffe" beide als ein und dieselbe Faser.
Wenn ich dieselben hier getrennt habe, so geschieht das einmal, weil die Ab-
stammung beider Fasern eine verschiedene ist, vor allem aber auch, weil die
mir vorliegenden aus vertrauenswerter Quelle stammenden Fasern den schon
oben angedeuteten Unterschied zeigen: Das Chinagras besitzt große Bieg-
samkeit und hohen Glanz, die Ramie dagegen ist steif und glanzlos.

§ 16. Nesselfaser.

Unter Nesselfaser verstehen einige Autoren sowohl die Chinagras- wie
die Ramiefaser. Ich verstehe dagegen unter Nesselfaser einzig und allein
die ganz vortreffliche Gespinnstfaser der bei uns heimischen und in
Wäldern, auf wüsten Plätzen, an Straßengräben u. s. w. in Masse wild
wachsenden, viel geschmähten echten Brennessel, Urtica dioica. Diese Brenn-
nessel besitzt eine Gewebefaser, welche der des Leins und der Ramie in nichts
nachsteht, die Jute dagegen an Feinheit und Dauerhaftigkeit bei weitem über-

trocknete und gedörrte Stengel mittels Brechmaſchinen geknickt und entholzt
wird. Dann folgt eine dem Schwingen des Flachſes ähnliche Operation.
Die ſo gewonnene Ramié iſt die Rohfaſer in Form aneinander klebender,
gelblichbrauner, geſchwungenem Flachs nicht unähnlicher Faſern.

Die Befreiung der Ramiéfaſer von den die Celluloſe inkruſtierenden
Subſtanzen geſchieht neuerdings in Frankreich nach einem patentierten Ver-
fahren von Schiefer, indem die Faſer unter Druck und unter Einwirkung
von Chemikalien in einem beſonders konſtruierten Keſſel gekocht wird. Nach
beendeter Operation wird die Faſer getrocknet, gekämmt, und auf Maſchinen,
welche denen in der Baumwollſpinnerei ganz ähnlich ſind (eventuell nach
vorherigem Bleichen) verſponnen und verwebt. Bei rationeller Gewinnung
der Faſer gibt dieſelbe (nach Eugène Schiefer) 28 bis 30 Prozent vom
Rohſtengelgewicht.

Eigenſchaften. Die ſo gewonnene Faſer iſt weiß und beſitzt faſt
alle Eigenſchaften des Chinagraſes, ſie beſitzt aber eine geringere Biegſam-
keit und iſt glanzlos. Die Länge der Faſer iſt 6 bis 8 cm, die Dicke 0,016
bis 0,126 mm; das Lumen iſt bald enger, bald weiter, oft bis zu ⅘ des
Zelldurchmeſſers.

Die chemiſche Zuſammenſetzung und das chemiſche Verhalten
der Ramiéfaſer ſtimmen mit dem Chinagras vollkommen überein, auch die
Kriterien für die Wertbeſtimmung ſind die gleichen wie beim Chinagras,
nur daß man hier diejenige Ramiéfaſer für die beſte wird halten müſſen,
welche in Bezug auf Biegſamkeit und Glanz dem Chinagras möglichſt nahe
kommt.

Formen, in denen die Ramiéfaſer zum Färben kommt. Ab-
geſehen von der unverſponnenen Faſer iſt beſonders das aus der Ramiéfaſer
geſponnene Garn, das Neſſelgarn, von Wichtigkeit, welches in vieler Hin-
ſicht dem Baumwollgarn ähnlich ſich verhält. Die glatten, leinwandartig
gewebten Stoffe führen den Namen Neſſel, und werden vielfach als Futter-
ſtoffe (Futterneſſel) verwendet.

Chinagras und Ramié werden vielfach für gleichbedeutend ange-
ſehen; ſogar v. Höhnel bezeichnet in ſeinem neuen Werke: „Mikroſkopie
der techniſch verwendeten Faſerſtoffe“ beide als ein und dieſelbe Faſer.
Wenn ich dieſelben hier getrennt habe, ſo geſchieht das einmal, weil die Ab-
ſtammung beider Faſern eine verſchiedene iſt, vor allem aber auch, weil die
mir vorliegenden aus vertrauenswerter Quelle ſtammenden Faſern den ſchon
oben angedeuteten Unterſchied zeigen: Das Chinagras beſitzt große Bieg-
ſamkeit und hohen Glanz, die Ramié dagegen iſt ſteif und glanzlos.

§ 16. Neſſelfaſer.

Unter Neſſelfaſer verſtehen einige Autoren ſowohl die Chinagras- wie
die Ramiefaſer. Ich verſtehe dagegen unter Neſſelfaſer einzig und allein
die ganz vortreffliche Geſpinnſtfaſer der bei uns heimiſchen und in
Wäldern, auf wüſten Plätzen, an Straßengräben u. ſ. w. in Maſſe wild
wachſenden, viel geſchmähten echten Brenneſſel, Urtica dioica. Dieſe Brenn-
neſſel beſitzt eine Gewebefaſer, welche der des Leins und der Ramié in nichts
nachſteht, die Jute dagegen an Feinheit und Dauerhaftigkeit bei weitem über-

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[75/0101] trocknete und gedörrte Stengel mittels Brechmaſchinen geknickt und entholzt wird. Dann folgt eine dem Schwingen des Flachſes ähnliche Operation. Die ſo gewonnene Ramié iſt die Rohfaſer in Form aneinander klebender, gelblichbrauner, geſchwungenem Flachs nicht unähnlicher Faſern. Die Befreiung der Ramiéfaſer von den die Celluloſe inkruſtierenden Subſtanzen geſchieht neuerdings in Frankreich nach einem patentierten Ver- fahren von Schiefer, indem die Faſer unter Druck und unter Einwirkung von Chemikalien in einem beſonders konſtruierten Keſſel gekocht wird. Nach beendeter Operation wird die Faſer getrocknet, gekämmt, und auf Maſchinen, welche denen in der Baumwollſpinnerei ganz ähnlich ſind (eventuell nach vorherigem Bleichen) verſponnen und verwebt. Bei rationeller Gewinnung der Faſer gibt dieſelbe (nach Eugène Schiefer) 28 bis 30 Prozent vom Rohſtengelgewicht. Eigenſchaften. Die ſo gewonnene Faſer iſt weiß und beſitzt faſt alle Eigenſchaften des Chinagraſes, ſie beſitzt aber eine geringere Biegſam- keit und iſt glanzlos. Die Länge der Faſer iſt 6 bis 8 cm, die Dicke 0,016 bis 0,126 mm; das Lumen iſt bald enger, bald weiter, oft bis zu ⅘ des Zelldurchmeſſers. Die chemiſche Zuſammenſetzung und das chemiſche Verhalten der Ramiéfaſer ſtimmen mit dem Chinagras vollkommen überein, auch die Kriterien für die Wertbeſtimmung ſind die gleichen wie beim Chinagras, nur daß man hier diejenige Ramiéfaſer für die beſte wird halten müſſen, welche in Bezug auf Biegſamkeit und Glanz dem Chinagras möglichſt nahe kommt. Formen, in denen die Ramiéfaſer zum Färben kommt. Ab- geſehen von der unverſponnenen Faſer iſt beſonders das aus der Ramiéfaſer geſponnene Garn, das Neſſelgarn, von Wichtigkeit, welches in vieler Hin- ſicht dem Baumwollgarn ähnlich ſich verhält. Die glatten, leinwandartig gewebten Stoffe führen den Namen Neſſel, und werden vielfach als Futter- ſtoffe (Futterneſſel) verwendet. Chinagras und Ramié werden vielfach für gleichbedeutend ange- ſehen; ſogar v. Höhnel bezeichnet in ſeinem neuen Werke: „Mikroſkopie der techniſch verwendeten Faſerſtoffe“ beide als ein und dieſelbe Faſer. Wenn ich dieſelben hier getrennt habe, ſo geſchieht das einmal, weil die Ab- ſtammung beider Faſern eine verſchiedene iſt, vor allem aber auch, weil die mir vorliegenden aus vertrauenswerter Quelle ſtammenden Faſern den ſchon oben angedeuteten Unterſchied zeigen: Das Chinagras beſitzt große Bieg- ſamkeit und hohen Glanz, die Ramié dagegen iſt ſteif und glanzlos. § 16. Neſſelfaſer. Unter Neſſelfaſer verſtehen einige Autoren ſowohl die Chinagras- wie die Ramiefaſer. Ich verſtehe dagegen unter Neſſelfaſer einzig und allein die ganz vortreffliche Geſpinnſtfaſer der bei uns heimiſchen und in Wäldern, auf wüſten Plätzen, an Straßengräben u. ſ. w. in Maſſe wild wachſenden, viel geſchmähten echten Brenneſſel, Urtica dioica. Dieſe Brenn- neſſel beſitzt eine Gewebefaſer, welche der des Leins und der Ramié in nichts nachſteht, die Jute dagegen an Feinheit und Dauerhaftigkeit bei weitem über-

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Zitationshilfe: Ganswindt, Albert: Handbuch der Färberei und der damit verwandten vorbereitenden und vollendenden Gewerbe. Weimar, 1889, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ganswindt_faerberei_1889/101>, abgerufen am 22.12.2024.