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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

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lichen Verfahren abzubringen seyn müße. Je länger
diese Gewohnheit schon gedauert hat, desto mehr Ge-
waltthätigkeit fordert sie zu ihrer Zerstörung. Aus
dem Grunde mißrathen es einige Schriftsteller, sich
gegen solche Gewohnheiten zu setzen. Man solle z. B.
nichts unternehmen, wenn die Natur den Zeitfluß
durch die Lunge zu entleeren gewöhnt ist. Zuverläßig
erfodert die Absicht, die natürliche Ausleerung zu
Stande zu bringen, große Behutsamkeit. Aber un-
möglich und schlechterdings gefahrvoll ist sie nicht. Ei-
nem solchen Frauenzimmer rietht Testa, um die Zeit
der Reinigung ihre Lebensart ganz zu verändern, und
sich in eine andere Gegend, kurz, in ein ganz anderes
Verhältniß mit den Außendingen zu versetzen, was
sie vollkommen gegen die sonst gewöhnliche Engbrüstig-
keit und das Blutspeyen sicher stellte.

§. 108.

Die Psychologen sowohl als die Aerzte würden
sich manche scharfsinnige, aber unglückliche Hypothese
erspart haben, wenn sie mehr Achtung für die Stär-
ke der Gewohnheit gehabt hätten.

Die sonderbare Geschichte des Kammerdieners,
wovon Tiedemann spricht, der im Schlafe den Tisch
deckte, auftrug, einschenkte, die Stühle in Ordnung
stellte, abtrug, die Gäste fortbegleitete; etc. die Ge-
schichte des Predigers aus der Enzyklopädie, welcher
vom Bette aufstund, Predigten niederschrieb, sie mit
vernehmlicher Stimme herablaß, und alle Ausdrücke,
die ihm nicht anständig waren, verbesserte; fehlerhaf-

te

lichen Verfahren abzubringen ſeyn muͤße. Je laͤnger
dieſe Gewohnheit ſchon gedauert hat, deſto mehr Ge-
waltthaͤtigkeit fordert ſie zu ihrer Zerſtoͤrung. Aus
dem Grunde mißrathen es einige Schriftſteller, ſich
gegen ſolche Gewohnheiten zu ſetzen. Man ſolle z. B.
nichts unternehmen, wenn die Natur den Zeitfluß
durch die Lunge zu entleeren gewoͤhnt iſt. Zuverlaͤßig
erfodert die Abſicht, die natuͤrliche Ausleerung zu
Stande zu bringen, große Behutſamkeit. Aber un-
moͤglich und ſchlechterdings gefahrvoll iſt ſie nicht. Ei-
nem ſolchen Frauenzimmer rietht Teſta, um die Zeit
der Reinigung ihre Lebensart ganz zu veraͤndern, und
ſich in eine andere Gegend, kurz, in ein ganz anderes
Verhaͤltniß mit den Außendingen zu verſetzen, was
ſie vollkommen gegen die ſonſt gewoͤhnliche Engbruͤſtig-
keit und das Blutſpeyen ſicher ſtellte.

§. 108.

Die Pſychologen ſowohl als die Aerzte wuͤrden
ſich manche ſcharfſinnige, aber ungluͤckliche Hypotheſe
erſpart haben, wenn ſie mehr Achtung fuͤr die Staͤr-
ke der Gewohnheit gehabt haͤtten.

Die ſonderbare Geſchichte des Kammerdieners,
wovon Tiedemann ſpricht, der im Schlafe den Tiſch
deckte, auftrug, einſchenkte, die Stuͤhle in Ordnung
ſtellte, abtrug, die Gaͤſte fortbegleitete; ꝛc. die Ge-
ſchichte des Predigers aus der Enzyklopaͤdie, welcher
vom Bette aufſtund, Predigten niederſchrieb, ſie mit
vernehmlicher Stimme herablaß, und alle Ausdruͤcke,
die ihm nicht anſtaͤndig waren, verbeſſerte; fehlerhaf-

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[647/0666] lichen Verfahren abzubringen ſeyn muͤße. Je laͤnger dieſe Gewohnheit ſchon gedauert hat, deſto mehr Ge- waltthaͤtigkeit fordert ſie zu ihrer Zerſtoͤrung. Aus dem Grunde mißrathen es einige Schriftſteller, ſich gegen ſolche Gewohnheiten zu ſetzen. Man ſolle z. B. nichts unternehmen, wenn die Natur den Zeitfluß durch die Lunge zu entleeren gewoͤhnt iſt. Zuverlaͤßig erfodert die Abſicht, die natuͤrliche Ausleerung zu Stande zu bringen, große Behutſamkeit. Aber un- moͤglich und ſchlechterdings gefahrvoll iſt ſie nicht. Ei- nem ſolchen Frauenzimmer rietht Teſta, um die Zeit der Reinigung ihre Lebensart ganz zu veraͤndern, und ſich in eine andere Gegend, kurz, in ein ganz anderes Verhaͤltniß mit den Außendingen zu verſetzen, was ſie vollkommen gegen die ſonſt gewoͤhnliche Engbruͤſtig- keit und das Blutſpeyen ſicher ſtellte. §. 108. Die Pſychologen ſowohl als die Aerzte wuͤrden ſich manche ſcharfſinnige, aber ungluͤckliche Hypotheſe erſpart haben, wenn ſie mehr Achtung fuͤr die Staͤr- ke der Gewohnheit gehabt haͤtten. Die ſonderbare Geſchichte des Kammerdieners, wovon Tiedemann ſpricht, der im Schlafe den Tiſch deckte, auftrug, einſchenkte, die Stuͤhle in Ordnung ſtellte, abtrug, die Gaͤſte fortbegleitete; ꝛc. die Ge- ſchichte des Predigers aus der Enzyklopaͤdie, welcher vom Bette aufſtund, Predigten niederſchrieb, ſie mit vernehmlicher Stimme herablaß, und alle Ausdruͤcke, die ihm nicht anſtaͤndig waren, verbeſſerte; fehlerhaf- te

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Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 647. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/666>, abgerufen am 21.11.2024.