Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

te also die Kraft, ihn zu tödten, in seine Natur ge-
legt seyn. Aber, so wie es seiner Willkühr über-
lassen wurde, seinen Untergang muthwilliger Weise zu
beschleunigen; so ist auch sein Geist jener Kenntnisse
fähig gemacht worden, wodurch er Unfälle vorsehen,
verhüten und heilen kann. Er kann die unnützen Be-
wegungen der Natur unterdrücken, die irrigen zu recht
weisen, die trägen beschleunigen, die zu heftigen mäs-
sigen, und die nachtheiligen abwenden, schwächen
oder zernichten. Nicht selten erringt die Kunst noch
den Sieg über einen Feind, an dem die Natur erle-
gen war. Es ist also höchst wichtig, das Unvermögen
der Natur kennen zu lernen, auch ihr ihre Grenzen
zu bestimmen, wodurch sich von selbst zeigen wird,
wie weit sich das Gebiet der Kunst erstrecke.

§. 15.

Von den zwey und vierzig Kranken, deren Ge-
schichten Hippokrates in dem ersten und dritten Buche
von den Landseuchen aufgezeichnet hat, sind vier und
zwanzig gestorben. Und von einigen wird ausdrücklich
gemeldet, daß Er oder andere Hilfsmittel der Kunst
angewendet hatten. Allen Umständen nach schränkte
sich Hippokrates allermeist auf die blosse Beobach-
tung der Natur ein; er war mehr Zuschauer, als
Arzt. Daher nannte Asklepiades sein Betragen ei-
ne Betrachtung über den Tod. Es war dieses auch
das beste Mittel, die kranke Natur in ihrem ganzen
Umfange kennen zu lernen. Und in dieser Hinsicht sind
die Werke der Alten, vorzüglich des Hippokrates

un-

te alſo die Kraft, ihn zu toͤdten, in ſeine Natur ge-
legt ſeyn. Aber, ſo wie es ſeiner Willkuͤhr uͤber-
laſſen wurde, ſeinen Untergang muthwilliger Weiſe zu
beſchleunigen; ſo iſt auch ſein Geiſt jener Kenntniſſe
faͤhig gemacht worden, wodurch er Unfaͤlle vorſehen,
verhuͤten und heilen kann. Er kann die unnuͤtzen Be-
wegungen der Natur unterdruͤcken, die irrigen zu recht
weiſen, die traͤgen beſchleunigen, die zu heftigen maͤſ-
ſigen, und die nachtheiligen abwenden, ſchwaͤchen
oder zernichten. Nicht ſelten erringt die Kunſt noch
den Sieg uͤber einen Feind, an dem die Natur erle-
gen war. Es iſt alſo hoͤchſt wichtig, das Unvermoͤgen
der Natur kennen zu lernen, auch ihr ihre Grenzen
zu beſtimmen, wodurch ſich von ſelbſt zeigen wird,
wie weit ſich das Gebiet der Kunſt erſtrecke.

§. 15.

Von den zwey und vierzig Kranken, deren Ge-
ſchichten Hippokrates in dem erſten und dritten Buche
von den Landſeuchen aufgezeichnet hat, ſind vier und
zwanzig geſtorben. Und von einigen wird ausdruͤcklich
gemeldet, daß Er oder andere Hilfsmittel der Kunſt
angewendet hatten. Allen Umſtaͤnden nach ſchraͤnkte
ſich Hippokrates allermeiſt auf die bloſſe Beobach-
tung der Natur ein; er war mehr Zuſchauer, als
Arzt. Daher nannte Asklepiades ſein Betragen ei-
ne Betrachtung über den Tod. Es war dieſes auch
das beſte Mittel, die kranke Natur in ihrem ganzen
Umfange kennen zu lernen. Und in dieſer Hinſicht ſind
die Werke der Alten, vorzuͤglich des Hippokrates

un-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0271" n="252"/>
te al&#x017F;o die Kraft, ihn zu to&#x0364;dten, in &#x017F;eine Natur ge-<lb/>
legt &#x017F;eyn. Aber, &#x017F;o wie es &#x017F;einer Willku&#x0364;hr u&#x0364;ber-<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en wurde, &#x017F;einen Untergang muthwilliger Wei&#x017F;e zu<lb/>
be&#x017F;chleunigen; &#x017F;o i&#x017F;t auch &#x017F;ein Gei&#x017F;t jener Kenntni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
fa&#x0364;hig gemacht worden, wodurch er Unfa&#x0364;lle vor&#x017F;ehen,<lb/>
verhu&#x0364;ten und heilen kann. Er kann die unnu&#x0364;tzen Be-<lb/>
wegungen der Natur unterdru&#x0364;cken, die irrigen zu recht<lb/>
wei&#x017F;en, die tra&#x0364;gen be&#x017F;chleunigen, die zu heftigen ma&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x017F;igen, und die nachtheiligen abwenden, &#x017F;chwa&#x0364;chen<lb/>
oder zernichten. Nicht &#x017F;elten erringt die Kun&#x017F;t noch<lb/>
den Sieg u&#x0364;ber einen Feind, an dem die Natur erle-<lb/>
gen war. Es i&#x017F;t al&#x017F;o ho&#x0364;ch&#x017F;t wichtig, das Unvermo&#x0364;gen<lb/>
der Natur kennen zu lernen, auch ihr ihre Grenzen<lb/>
zu be&#x017F;timmen, wodurch &#x017F;ich von &#x017F;elb&#x017F;t zeigen wird,<lb/>
wie weit &#x017F;ich das Gebiet der Kun&#x017F;t er&#x017F;trecke.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 15.</head><lb/>
            <p>Von den zwey und vierzig Kranken, deren Ge-<lb/>
&#x017F;chichten <hi rendition="#fr">Hippokrates</hi> in dem er&#x017F;ten und dritten Buche<lb/>
von den Land&#x017F;euchen aufgezeichnet hat, &#x017F;ind vier und<lb/>
zwanzig ge&#x017F;torben. Und von einigen wird ausdru&#x0364;cklich<lb/>
gemeldet, daß Er oder andere Hilfsmittel der Kun&#x017F;t<lb/>
angewendet hatten. Allen Um&#x017F;ta&#x0364;nden nach &#x017F;chra&#x0364;nkte<lb/>
&#x017F;ich <hi rendition="#fr">Hippokrates</hi> allermei&#x017F;t auf die blo&#x017F;&#x017F;e Beobach-<lb/>
tung der Natur ein; er war mehr Zu&#x017F;chauer, als<lb/>
Arzt. Daher nannte <hi rendition="#fr">Asklepiades</hi> &#x017F;ein Betragen ei-<lb/>
ne <hi rendition="#fr">Betrachtung über den Tod</hi>. Es war die&#x017F;es auch<lb/>
das be&#x017F;te Mittel, die kranke Natur in ihrem ganzen<lb/>
Umfange kennen zu lernen. Und in die&#x017F;er Hin&#x017F;icht &#x017F;ind<lb/>
die Werke der Alten, vorzu&#x0364;glich des <hi rendition="#fr">Hippokrates</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch">un-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[252/0271] te alſo die Kraft, ihn zu toͤdten, in ſeine Natur ge- legt ſeyn. Aber, ſo wie es ſeiner Willkuͤhr uͤber- laſſen wurde, ſeinen Untergang muthwilliger Weiſe zu beſchleunigen; ſo iſt auch ſein Geiſt jener Kenntniſſe faͤhig gemacht worden, wodurch er Unfaͤlle vorſehen, verhuͤten und heilen kann. Er kann die unnuͤtzen Be- wegungen der Natur unterdruͤcken, die irrigen zu recht weiſen, die traͤgen beſchleunigen, die zu heftigen maͤſ- ſigen, und die nachtheiligen abwenden, ſchwaͤchen oder zernichten. Nicht ſelten erringt die Kunſt noch den Sieg uͤber einen Feind, an dem die Natur erle- gen war. Es iſt alſo hoͤchſt wichtig, das Unvermoͤgen der Natur kennen zu lernen, auch ihr ihre Grenzen zu beſtimmen, wodurch ſich von ſelbſt zeigen wird, wie weit ſich das Gebiet der Kunſt erſtrecke. §. 15. Von den zwey und vierzig Kranken, deren Ge- ſchichten Hippokrates in dem erſten und dritten Buche von den Landſeuchen aufgezeichnet hat, ſind vier und zwanzig geſtorben. Und von einigen wird ausdruͤcklich gemeldet, daß Er oder andere Hilfsmittel der Kunſt angewendet hatten. Allen Umſtaͤnden nach ſchraͤnkte ſich Hippokrates allermeiſt auf die bloſſe Beobach- tung der Natur ein; er war mehr Zuſchauer, als Arzt. Daher nannte Asklepiades ſein Betragen ei- ne Betrachtung über den Tod. Es war dieſes auch das beſte Mittel, die kranke Natur in ihrem ganzen Umfange kennen zu lernen. Und in dieſer Hinſicht ſind die Werke der Alten, vorzuͤglich des Hippokrates un-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der erste Band von Franz Joseph Galls "Philosophi… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/271
Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/271>, abgerufen am 21.12.2024.