Der Mensch sollte an Fähigkeiten die übrigen Erdengeschöpfe übertreffen; sein Bau mußte also der vollkommenste, und die möglichen Veränderungen dessel- ben die zahlreichesten seyn. Seine Gesundheit und sein Wohlbehagen waren auf die gleichmäßige Einwirkung der festen und flüssigen Theile gegründet; je vielfacher diese sind, je mehr ihre Festigkeit und Mischung ver- ändert werden können; desto vielfacher kann auch ihre gegenseitige Wirkung von der einzigen gleichmässigen abweichen, und desto mehr Verletzungen und Zerrüt- tungen der Gesundheit sind möglich gemacht worden. Weil er lachen konnte, so sollte er auch weinen; und weil er das Verflossene und die Zukunft durchschauen sollte, so sollte er auch zum Wahnsinn herab sinken können.
Ueberdenken wir noch das Heer der Krankheits- ursachen, welche vom gesellschaftlichen Leben entsprin- gen: die unendliche Verschiedenheit seiner Lebensart, Gewerbe, Ueppigkeit, strenge Vorurtheile, Mangel, Ueberfluß, Trägheit, unmäßige Anstrengung des Kör- pers und des Geistes, Auswanderung, Erziehung, Ansteckung, Afterärzte u. s. w.: so sollte man an der Möglichkeit verzweifeln, daß man jemals gesund seyn könnte.
§. 4. Anstalten gegen die Krankheitsursachen.
Indessen ist doch immer der kranke Theil des Menschengeschlechtes verhältnißmässig unendlich klein; man hat alltägliche Beyspiele von sehr alten Leuten,
wel-
A 2
Der Menſch ſollte an Faͤhigkeiten die uͤbrigen Erdengeſchoͤpfe uͤbertreffen; ſein Bau mußte alſo der vollkommenſte, und die moͤglichen Veraͤnderungen deſſel- ben die zahlreicheſten ſeyn. Seine Geſundheit und ſein Wohlbehagen waren auf die gleichmaͤßige Einwirkung der feſten und fluͤſſigen Theile gegruͤndet; je vielfacher dieſe ſind, je mehr ihre Feſtigkeit und Miſchung ver- aͤndert werden koͤnnen; deſto vielfacher kann auch ihre gegenſeitige Wirkung von der einzigen gleichmaͤſſigen abweichen, und deſto mehr Verletzungen und Zerruͤt- tungen der Geſundheit ſind moͤglich gemacht worden. Weil er lachen konnte, ſo ſollte er auch weinen; und weil er das Verfloſſene und die Zukunft durchſchauen ſollte, ſo ſollte er auch zum Wahnſinn herab ſinken koͤnnen.
Ueberdenken wir noch das Heer der Krankheits- urſachen, welche vom geſellſchaftlichen Leben entſprin- gen: die unendliche Verſchiedenheit ſeiner Lebensart, Gewerbe, Ueppigkeit, ſtrenge Vorurtheile, Mangel, Ueberfluß, Traͤgheit, unmaͤßige Anſtrengung des Koͤr- pers und des Geiſtes, Auswanderung, Erziehung, Anſteckung, Afteraͤrzte u. ſ. w.: ſo ſollte man an der Moͤglichkeit verzweifeln, daß man jemals geſund ſeyn koͤnnte.
§. 4. Anſtalten gegen die Krankheitsurſachen.
Indeſſen iſt doch immer der kranke Theil des Menſchengeſchlechtes verhaͤltnißmaͤſſig unendlich klein; man hat alltaͤgliche Beyſpiele von ſehr alten Leuten,
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Der Menſch ſollte an Faͤhigkeiten die uͤbrigen
Erdengeſchoͤpfe uͤbertreffen; ſein Bau mußte alſo der
vollkommenſte, und die moͤglichen Veraͤnderungen deſſel-
ben die zahlreicheſten ſeyn. Seine Geſundheit und ſein
Wohlbehagen waren auf die gleichmaͤßige Einwirkung
der feſten und fluͤſſigen Theile gegruͤndet; je vielfacher
dieſe ſind, je mehr ihre Feſtigkeit und Miſchung ver-
aͤndert werden koͤnnen; deſto vielfacher kann auch ihre
gegenſeitige Wirkung von der einzigen gleichmaͤſſigen
abweichen, und deſto mehr Verletzungen und Zerruͤt-
tungen der Geſundheit ſind moͤglich gemacht worden.
Weil er lachen konnte, ſo ſollte er auch weinen; und
weil er das Verfloſſene und die Zukunft durchſchauen
ſollte, ſo ſollte er auch zum Wahnſinn herab ſinken
koͤnnen.
Ueberdenken wir noch das Heer der Krankheits-
urſachen, welche vom geſellſchaftlichen Leben entſprin-
gen: die unendliche Verſchiedenheit ſeiner Lebensart,
Gewerbe, Ueppigkeit, ſtrenge Vorurtheile, Mangel,
Ueberfluß, Traͤgheit, unmaͤßige Anſtrengung des Koͤr-
pers und des Geiſtes, Auswanderung, Erziehung,
Anſteckung, Afteraͤrzte u. ſ. w.: ſo ſollte man an der
Moͤglichkeit verzweifeln, daß man jemals geſund ſeyn
koͤnnte.
§. 4.
Anſtalten gegen die Krankheitsurſachen.
Indeſſen iſt doch immer der kranke Theil des
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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/22>, abgerufen am 13.11.2024.
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