sprächen an einander hingingen. Ich kann Ihnen so wenig den Herrn als die Dame nennen; aber es thut nichts zur Sache. Sie unterhielten sich also und schienen an nichts zu denken, -- als mit einemmal ihre Köpfe sich gegen einander neigten und sie sich gegen¬ seitig einen herzhaften Kuß gaben. Sie schlugen darauf ihre erste Richtung wieder ein und setzten sehr ernst ihre Unterhaltung fort, als ob nichts passirt wäre. "Haben Sie es gesehen? rief mein Freund voll Erstau¬ nen; darf ich meinen Augen trauen?" Ich habe es gesehen, erwiederte ich ganz ruhig, -- aber ich glaube es nicht!"
Montag, den 2. August 1831*.
Wir sprachen über die Metamorphose der Pflanze, und namentlich über Decandolle's Lehre von der Sym¬ metrie, die Goethe für eine bloße Illusion hält.
"Die Natur fügte er hinzu, ergiebt sich nicht einem Jeden. Sie erweiset sich vielmehr gegen Viele wie ein neckisches junges Mädchen, das uns durch tausend Reize anlockt, aber in dem Augenblick, wo wir es zu fassen und zu besitzen glauben, unsern Armen ent¬ schlüpft."
Mittwoch, den 19. October 1831*.
Heute war zu Belvedere die Versammlung der Ge¬ sellschaft zur Beförderung des Ackerbaues; auch erste
ſprächen an einander hingingen. Ich kann Ihnen ſo wenig den Herrn als die Dame nennen; aber es thut nichts zur Sache. Sie unterhielten ſich alſo und ſchienen an nichts zu denken, — als mit einemmal ihre Köpfe ſich gegen einander neigten und ſie ſich gegen¬ ſeitig einen herzhaften Kuß gaben. Sie ſchlugen darauf ihre erſte Richtung wieder ein und ſetzten ſehr ernſt ihre Unterhaltung fort, als ob nichts paſſirt wäre. „Haben Sie es geſehen? rief mein Freund voll Erſtau¬ nen; darf ich meinen Augen trauen?“ Ich habe es geſehen, erwiederte ich ganz ruhig, — aber ich glaube es nicht!“
Montag, den 2. Auguſt 1831*.
Wir ſprachen über die Metamorphoſe der Pflanze, und namentlich über Decandolle's Lehre von der Sym¬ metrie, die Goethe für eine bloße Illuſion hält.
„Die Natur fügte er hinzu, ergiebt ſich nicht einem Jeden. Sie erweiſet ſich vielmehr gegen Viele wie ein neckiſches junges Mädchen, das uns durch tauſend Reize anlockt, aber in dem Augenblick, wo wir es zu faſſen und zu beſitzen glauben, unſern Armen ent¬ ſchlüpft.“
Mittwoch, den 19. October 1831*.
Heute war zu Belvedere die Verſammlung der Ge¬ ſellſchaft zur Beförderung des Ackerbaues; auch erſte
<TEI><text><body><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0381"n="359"/>ſprächen an einander hingingen. Ich kann Ihnen ſo<lb/>
wenig den Herrn als die Dame nennen; aber es thut<lb/>
nichts zur Sache. Sie unterhielten ſich alſo und<lb/>ſchienen an nichts zu denken, — als mit einemmal ihre<lb/>
Köpfe ſich gegen einander neigten und ſie ſich gegen¬<lb/>ſeitig einen herzhaften Kuß gaben. Sie ſchlugen darauf<lb/>
ihre erſte Richtung wieder ein und ſetzten ſehr ernſt<lb/>
ihre Unterhaltung fort, als ob nichts paſſirt wäre.<lb/>„Haben Sie es geſehen? rief mein Freund voll Erſtau¬<lb/>
nen; darf ich meinen Augen trauen?“ Ich habe es<lb/>
geſehen, erwiederte ich ganz ruhig, — aber ich glaube es<lb/>
nicht!“</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div><divn="4"><datelinerendition="#right">Montag, den 2. Auguſt 1831*.<lb/></dateline><p>Wir ſprachen über die Metamorphoſe der Pflanze,<lb/>
und namentlich über Decandolle's Lehre von der <hirendition="#g">Sym¬<lb/>
metrie</hi>, die Goethe für eine bloße Illuſion hält.</p><lb/><p>„Die Natur fügte er hinzu, ergiebt ſich nicht einem<lb/>
Jeden. Sie erweiſet ſich vielmehr gegen Viele wie<lb/>
ein neckiſches junges Mädchen, das uns durch tauſend<lb/>
Reize anlockt, aber in dem Augenblick, wo wir es zu<lb/>
faſſen und zu beſitzen glauben, unſern Armen ent¬<lb/>ſchlüpft.“</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div><divn="4"><datelinerendition="#right">Mittwoch, den 19. October 1831*.<lb/></dateline><p>Heute war zu Belvedere die Verſammlung der Ge¬<lb/>ſellſchaft zur Beförderung des Ackerbaues; auch erſte<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[359/0381]
ſprächen an einander hingingen. Ich kann Ihnen ſo
wenig den Herrn als die Dame nennen; aber es thut
nichts zur Sache. Sie unterhielten ſich alſo und
ſchienen an nichts zu denken, — als mit einemmal ihre
Köpfe ſich gegen einander neigten und ſie ſich gegen¬
ſeitig einen herzhaften Kuß gaben. Sie ſchlugen darauf
ihre erſte Richtung wieder ein und ſetzten ſehr ernſt
ihre Unterhaltung fort, als ob nichts paſſirt wäre.
„Haben Sie es geſehen? rief mein Freund voll Erſtau¬
nen; darf ich meinen Augen trauen?“ Ich habe es
geſehen, erwiederte ich ganz ruhig, — aber ich glaube es
nicht!“
Montag, den 2. Auguſt 1831*.
Wir ſprachen über die Metamorphoſe der Pflanze,
und namentlich über Decandolle's Lehre von der Sym¬
metrie, die Goethe für eine bloße Illuſion hält.
„Die Natur fügte er hinzu, ergiebt ſich nicht einem
Jeden. Sie erweiſet ſich vielmehr gegen Viele wie
ein neckiſches junges Mädchen, das uns durch tauſend
Reize anlockt, aber in dem Augenblick, wo wir es zu
faſſen und zu beſitzen glauben, unſern Armen ent¬
ſchlüpft.“
Mittwoch, den 19. October 1831*.
Heute war zu Belvedere die Verſammlung der Ge¬
ſellſchaft zur Beförderung des Ackerbaues; auch erſte
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/381>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.