zurück und rühmte an ihm, daß er Einbildungskraft besitze. "Im Grunde, fuhr er fort, ist ohne diese hohe Gabe ein wirklich großer Naturforscher gar nicht zu denken. Und zwar meine ich nicht eine Einbildungs¬ kraft, die ins Vage geht und sich Dinge imaginirt, die nicht existiren; sondern ich meine eine solche, die den wirklichen Boden der Erde nicht verläßt, und mit dem Maßstab des Wirklichen und Erkannten zu geahne¬ ten, vermutheten Dingen schreitet. Da mag sie denn prüfen, ob denn dieses Geahnete auch möglich sey und ob es nicht in Widerspruch mit anderen bewußten Ge¬ setzen komme. Eine solche Einbildungskraft setzt aber freilich einen weiten, ruhigen Kopf voraus, dem eine große Uebersicht der lebendigen Welt und ihrer Gesetze zu Gebote steht."
Während wir sprachen, kam ein Paket mit einer Uebersetzung der Geschwister ins Böhmische, die Goethen große Freude zu machen schien.
Sonntag, den 31. Januar 1830*.
Besuch bei Goethe in Begleitung des Prinzen. Er empfing uns in seinem Arbeitszimmer.
Wir sprachen über die verschiedenen Ausgaben sei¬ ner Werke, wobei es mir auffallend war, von ihm zu hören, daß er den größten Theil dieser Editionen sel¬ ber nicht besitze. Auch die erste Ausgabe seines römi¬ schen Carnevals, mit Kupfern nach eigenen Original¬
zurück und rühmte an ihm, daß er Einbildungskraft beſitze. „Im Grunde, fuhr er fort, iſt ohne dieſe hohe Gabe ein wirklich großer Naturforſcher gar nicht zu denken. Und zwar meine ich nicht eine Einbildungs¬ kraft, die ins Vage geht und ſich Dinge imaginirt, die nicht exiſtiren; ſondern ich meine eine ſolche, die den wirklichen Boden der Erde nicht verläßt, und mit dem Maßſtab des Wirklichen und Erkannten zu geahne¬ ten, vermutheten Dingen ſchreitet. Da mag ſie denn prüfen, ob denn dieſes Geahnete auch möglich ſey und ob es nicht in Widerſpruch mit anderen bewußten Ge¬ ſetzen komme. Eine ſolche Einbildungskraft ſetzt aber freilich einen weiten, ruhigen Kopf voraus, dem eine große Ueberſicht der lebendigen Welt und ihrer Geſetze zu Gebote ſteht.“
Während wir ſprachen, kam ein Paket mit einer Ueberſetzung der Geſchwiſter ins Böhmiſche, die Goethen große Freude zu machen ſchien.
Sonntag, den 31. Januar 1830*.
Beſuch bei Goethe in Begleitung des Prinzen. Er empfing uns in ſeinem Arbeitszimmer.
Wir ſprachen über die verſchiedenen Ausgaben ſei¬ ner Werke, wobei es mir auffallend war, von ihm zu hören, daß er den größten Theil dieſer Editionen ſel¬ ber nicht beſitze. Auch die erſte Ausgabe ſeines römi¬ ſchen Carnevals, mit Kupfern nach eigenen Original¬
<TEI><text><body><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0305"n="283"/>
zurück und rühmte an ihm, daß er Einbildungskraft<lb/>
beſitze. „Im Grunde, fuhr er fort, iſt ohne dieſe hohe<lb/>
Gabe ein wirklich großer Naturforſcher gar nicht zu<lb/>
denken. Und zwar meine ich nicht eine Einbildungs¬<lb/>
kraft, die ins Vage geht und ſich Dinge imaginirt,<lb/>
die nicht exiſtiren; ſondern ich meine eine ſolche, die<lb/>
den wirklichen Boden der Erde nicht verläßt, und mit<lb/>
dem Maßſtab des Wirklichen und Erkannten zu geahne¬<lb/>
ten, vermutheten Dingen ſchreitet. Da mag ſie denn<lb/>
prüfen, ob denn dieſes Geahnete auch möglich ſey und<lb/>
ob es nicht in Widerſpruch mit anderen bewußten Ge¬<lb/>ſetzen komme. Eine ſolche Einbildungskraft ſetzt aber<lb/>
freilich einen weiten, ruhigen Kopf voraus, dem eine<lb/>
große Ueberſicht der lebendigen Welt und ihrer Geſetze<lb/>
zu Gebote ſteht.“</p><lb/><p>Während wir ſprachen, kam ein Paket mit einer<lb/>
Ueberſetzung der <hirendition="#g">Geſchwiſter</hi> ins Böhmiſche, die<lb/>
Goethen große Freude zu machen ſchien.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div><divn="4"><datelinerendition="#right">Sonntag, den 31. Januar 1830*.<lb/></dateline><p>Beſuch bei Goethe in Begleitung des Prinzen. Er<lb/>
empfing uns in ſeinem Arbeitszimmer.</p><lb/><p>Wir ſprachen über die verſchiedenen Ausgaben ſei¬<lb/>
ner Werke, wobei es mir auffallend war, von ihm zu<lb/>
hören, daß er den größten Theil dieſer Editionen ſel¬<lb/>
ber nicht beſitze. Auch die erſte Ausgabe ſeines römi¬<lb/>ſchen Carnevals, mit Kupfern nach eigenen Original¬<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[283/0305]
zurück und rühmte an ihm, daß er Einbildungskraft
beſitze. „Im Grunde, fuhr er fort, iſt ohne dieſe hohe
Gabe ein wirklich großer Naturforſcher gar nicht zu
denken. Und zwar meine ich nicht eine Einbildungs¬
kraft, die ins Vage geht und ſich Dinge imaginirt,
die nicht exiſtiren; ſondern ich meine eine ſolche, die
den wirklichen Boden der Erde nicht verläßt, und mit
dem Maßſtab des Wirklichen und Erkannten zu geahne¬
ten, vermutheten Dingen ſchreitet. Da mag ſie denn
prüfen, ob denn dieſes Geahnete auch möglich ſey und
ob es nicht in Widerſpruch mit anderen bewußten Ge¬
ſetzen komme. Eine ſolche Einbildungskraft ſetzt aber
freilich einen weiten, ruhigen Kopf voraus, dem eine
große Ueberſicht der lebendigen Welt und ihrer Geſetze
zu Gebote ſteht.“
Während wir ſprachen, kam ein Paket mit einer
Ueberſetzung der Geſchwiſter ins Böhmiſche, die
Goethen große Freude zu machen ſchien.
Sonntag, den 31. Januar 1830*.
Beſuch bei Goethe in Begleitung des Prinzen. Er
empfing uns in ſeinem Arbeitszimmer.
Wir ſprachen über die verſchiedenen Ausgaben ſei¬
ner Werke, wobei es mir auffallend war, von ihm zu
hören, daß er den größten Theil dieſer Editionen ſel¬
ber nicht beſitze. Auch die erſte Ausgabe ſeines römi¬
ſchen Carnevals, mit Kupfern nach eigenen Original¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/305>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.