Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

pelle, wozu ein Schuster den Schlüssel hatte, der immer
für vier Groschen aufschloß. Hier, vor den Bildern, ging
es nun an Demonstrationen, und wenn man lange ge¬
nug gestritten, kehrte man in die Osterie zurück, um
bey einer Flasche Wein sich zu versöhnen und alle Con¬
troversen zu vergessen. So ging es jeden Tag, und der
Schuster an der Sixtinischen Capelle erhielt manche vier
Groschen."

Bey dieser heiteren Gelegenheit erinnerte man sich
eines anderen Schusters, der auf einem antiken Mar¬
morkopf gewöhnlich sein Leder geklopft. "Es war das
Portrait eines römischen Kaisers, sagte Meyer; die
Antike stand vor des Schusters Thüre, und wir haben
ihn sehr oft in[...] dieser löblichen Beschäftigung gesehen
wenn wir vorbeygingen."


Wir sprachen über Leute, die, ohne eigentliches Ta¬
lent, zur Productivität gerufen werden, und über An¬
dere, die über Dinge schreiben die sie nicht verstehen.

"Das Verführerische für junge Leute, sagte Goethe,
ist dieses. Wir leben in einer Zeit, wo so viele Cultur
verbreitet ist, daß sie sich gleichsam der Atmosphäre mit¬
getheilt hat, worin ein junger Mensch athmet. Poe¬

10 *

pelle, wozu ein Schuſter den Schluͤſſel hatte, der immer
fuͤr vier Groſchen aufſchloß. Hier, vor den Bildern, ging
es nun an Demonſtrationen, und wenn man lange ge¬
nug geſtritten, kehrte man in die Oſterie zuruͤck, um
bey einer Flaſche Wein ſich zu verſoͤhnen und alle Con¬
troverſen zu vergeſſen. So ging es jeden Tag, und der
Schuſter an der Sixtiniſchen Capelle erhielt manche vier
Groſchen.“

Bey dieſer heiteren Gelegenheit erinnerte man ſich
eines anderen Schuſters, der auf einem antiken Mar¬
morkopf gewoͤhnlich ſein Leder geklopft. „Es war das
Portrait eines roͤmiſchen Kaiſers, ſagte Meyer; die
Antike ſtand vor des Schuſters Thuͤre, und wir haben
ihn ſehr oft in[…] dieſer loͤblichen Beſchaͤftigung geſehen
wenn wir vorbeygingen.“


Wir ſprachen uͤber Leute, die, ohne eigentliches Ta¬
lent, zur Productivitaͤt gerufen werden, und uͤber An¬
dere, die uͤber Dinge ſchreiben die ſie nicht verſtehen.

„Das Verfuͤhreriſche fuͤr junge Leute, ſagte Goethe,
iſt dieſes. Wir leben in einer Zeit, wo ſo viele Cultur
verbreitet iſt, daß ſie ſich gleichſam der Atmoſphaͤre mit¬
getheilt hat, worin ein junger Menſch athmet. Poe¬

10 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0157" n="147"/>
pelle, wozu ein Schu&#x017F;ter den Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;el hatte, der immer<lb/>
fu&#x0364;r vier Gro&#x017F;chen auf&#x017F;chloß. Hier, vor den Bildern, ging<lb/>
es nun an Demon&#x017F;trationen, und wenn man lange ge¬<lb/>
nug ge&#x017F;tritten, kehrte man in die O&#x017F;terie zuru&#x0364;ck, um<lb/>
bey einer Fla&#x017F;che Wein &#x017F;ich zu ver&#x017F;o&#x0364;hnen und alle Con¬<lb/>
trover&#x017F;en zu verge&#x017F;&#x017F;en. So ging es jeden Tag, und der<lb/>
Schu&#x017F;ter an der Sixtini&#x017F;chen Capelle erhielt manche vier<lb/>
Gro&#x017F;chen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Bey die&#x017F;er heiteren Gelegenheit erinnerte man &#x017F;ich<lb/>
eines anderen Schu&#x017F;ters, der auf einem antiken Mar¬<lb/>
morkopf gewo&#x0364;hnlich &#x017F;ein Leder geklopft. &#x201E;Es war das<lb/>
Portrait eines ro&#x0364;mi&#x017F;chen Kai&#x017F;ers, &#x017F;agte Meyer; die<lb/>
Antike &#x017F;tand vor des Schu&#x017F;ters Thu&#x0364;re, und wir haben<lb/>
ihn &#x017F;ehr oft in<choice><sic> in</sic><corr/></choice> die&#x017F;er lo&#x0364;blichen Be&#x017F;cha&#x0364;ftigung ge&#x017F;ehen<lb/>
wenn wir vorbeygingen.&#x201C;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
        <div n="4">
          <dateline rendition="#right">Mittwoch, den 15. April 1829.<lb/></dateline>
          <p>Wir &#x017F;prachen u&#x0364;ber Leute, die, ohne eigentliches Ta¬<lb/>
lent, zur Productivita&#x0364;t gerufen werden, und u&#x0364;ber An¬<lb/>
dere, die u&#x0364;ber Dinge &#x017F;chreiben die &#x017F;ie nicht ver&#x017F;tehen.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Das Verfu&#x0364;hreri&#x017F;che fu&#x0364;r junge Leute, &#x017F;agte Goethe,<lb/>
i&#x017F;t die&#x017F;es. Wir leben in einer Zeit, wo &#x017F;o viele Cultur<lb/>
verbreitet i&#x017F;t, daß &#x017F;ie &#x017F;ich gleich&#x017F;am der Atmo&#x017F;pha&#x0364;re mit¬<lb/>
getheilt hat, worin ein junger Men&#x017F;ch athmet. Poe¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">10 *<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[147/0157] pelle, wozu ein Schuſter den Schluͤſſel hatte, der immer fuͤr vier Groſchen aufſchloß. Hier, vor den Bildern, ging es nun an Demonſtrationen, und wenn man lange ge¬ nug geſtritten, kehrte man in die Oſterie zuruͤck, um bey einer Flaſche Wein ſich zu verſoͤhnen und alle Con¬ troverſen zu vergeſſen. So ging es jeden Tag, und der Schuſter an der Sixtiniſchen Capelle erhielt manche vier Groſchen.“ Bey dieſer heiteren Gelegenheit erinnerte man ſich eines anderen Schuſters, der auf einem antiken Mar¬ morkopf gewoͤhnlich ſein Leder geklopft. „Es war das Portrait eines roͤmiſchen Kaiſers, ſagte Meyer; die Antike ſtand vor des Schuſters Thuͤre, und wir haben ihn ſehr oft in dieſer loͤblichen Beſchaͤftigung geſehen wenn wir vorbeygingen.“ Mittwoch, den 15. April 1829. Wir ſprachen uͤber Leute, die, ohne eigentliches Ta¬ lent, zur Productivitaͤt gerufen werden, und uͤber An¬ dere, die uͤber Dinge ſchreiben die ſie nicht verſtehen. „Das Verfuͤhreriſche fuͤr junge Leute, ſagte Goethe, iſt dieſes. Wir leben in einer Zeit, wo ſo viele Cultur verbreitet iſt, daß ſie ſich gleichſam der Atmoſphaͤre mit¬ getheilt hat, worin ein junger Menſch athmet. Poe¬ 10 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/157
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/157>, abgerufen am 21.11.2024.