werden Freyheit und Kühnheit genug haben darüber hinwegzukommen. Den Franzosen wird der Verstand im Wege seyn, und sie werden nicht bedenken, daß die Phantasie ihre eigenen Gesetze hat, denen der Verstand nicht beykommen kann und soll. Wenn durch die Phan¬ tasie nicht Dinge entständen, die für den Verstand ewig problematisch bleiben, so wäre überhaupt zu der Phan¬ tasie nicht viel. Dieß ist es, wodurch sich die Poesie von der Prosa unterscheidet, bey welcher der Verstand immer zu Hause ist und seyn mag und soll."
Ich freute mich dieses bedeutenden Wortes und merkte es mir. Darauf schickte ich mich an zum Gehen, denn es war gegen zehn Uhr geworden. Wir saßen ohne Licht, die helle Sommer-Nacht leuchtete aus Norden über den Ettersberg herüber.
Montag Abend den 9. July 1827.
Ich fand Goethe allein, in Betrachtung der Gyps- Pasten nach dem Stoschischen Cabinet. "Man ist in Berlin so freundlich gewesen, sagte er, mir diese ganze Sammlung zur Ansicht herzusenden; ich kenne die schö¬ nen Sachen schon dem größten Theile nach, hier aber sehe ich sie in der belehrenden Folge, wie Winckelmann sie geordnet hat; auch benutze ich seine Beschreibung und sehe seine Meinung nach in Fällen, wo ich selber zweifle."
werden Freyheit und Kuͤhnheit genug haben daruͤber hinwegzukommen. Den Franzoſen wird der Verſtand im Wege ſeyn, und ſie werden nicht bedenken, daß die Phantaſie ihre eigenen Geſetze hat, denen der Verſtand nicht beykommen kann und ſoll. Wenn durch die Phan¬ taſie nicht Dinge entſtaͤnden, die fuͤr den Verſtand ewig problematiſch bleiben, ſo waͤre uͤberhaupt zu der Phan¬ taſie nicht viel. Dieß iſt es, wodurch ſich die Poeſie von der Proſa unterſcheidet, bey welcher der Verſtand immer zu Hauſe iſt und ſeyn mag und ſoll.“
Ich freute mich dieſes bedeutenden Wortes und merkte es mir. Darauf ſchickte ich mich an zum Gehen, denn es war gegen zehn Uhr geworden. Wir ſaßen ohne Licht, die helle Sommer-Nacht leuchtete aus Norden uͤber den Ettersberg heruͤber.
Montag Abend den 9. July 1827.
Ich fand Goethe allein, in Betrachtung der Gyps- Paſten nach dem Stoſchiſchen Cabinet. „Man iſt in Berlin ſo freundlich geweſen, ſagte er, mir dieſe ganze Sammlung zur Anſicht herzuſenden; ich kenne die ſchoͤ¬ nen Sachen ſchon dem groͤßten Theile nach, hier aber ſehe ich ſie in der belehrenden Folge, wie Winckelmann ſie geordnet hat; auch benutze ich ſeine Beſchreibung und ſehe ſeine Meinung nach in Faͤllen, wo ich ſelber zweifle.“
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0386"n="366"/>
werden Freyheit und Kuͤhnheit genug haben daruͤber<lb/>
hinwegzukommen. Den Franzoſen wird der Verſtand<lb/>
im Wege ſeyn, und ſie werden nicht bedenken, daß die<lb/>
Phantaſie ihre eigenen Geſetze hat, denen der Verſtand<lb/>
nicht beykommen kann und ſoll. Wenn durch die Phan¬<lb/>
taſie nicht Dinge entſtaͤnden, die fuͤr den Verſtand ewig<lb/>
problematiſch bleiben, ſo waͤre uͤberhaupt zu der Phan¬<lb/>
taſie nicht viel. Dieß iſt es, wodurch ſich die Poeſie<lb/>
von der Proſa unterſcheidet, bey welcher der Verſtand<lb/>
immer zu Hauſe iſt und ſeyn mag und ſoll.“</p><lb/><p>Ich freute mich dieſes bedeutenden Wortes und merkte<lb/>
es mir. Darauf ſchickte ich mich an zum Gehen, denn<lb/>
es war gegen zehn Uhr geworden. Wir ſaßen ohne<lb/>
Licht, die helle Sommer-Nacht leuchtete aus Norden<lb/>
uͤber den Ettersberg heruͤber.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div><divn="2"><datelinerendition="#right">Montag Abend den 9. July 1827.<lb/></dateline><p>Ich fand Goethe allein, in Betrachtung der Gyps-<lb/>
Paſten nach dem Stoſchiſchen Cabinet. „Man iſt in<lb/>
Berlin ſo freundlich geweſen, ſagte er, mir dieſe ganze<lb/>
Sammlung zur Anſicht herzuſenden; ich kenne die ſchoͤ¬<lb/>
nen Sachen ſchon dem groͤßten Theile nach, hier aber<lb/>ſehe ich ſie in der belehrenden Folge, wie Winckelmann<lb/>ſie geordnet hat; auch benutze ich ſeine Beſchreibung und<lb/>ſehe ſeine Meinung nach in Faͤllen, wo ich ſelber zweifle.“<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[366/0386]
werden Freyheit und Kuͤhnheit genug haben daruͤber
hinwegzukommen. Den Franzoſen wird der Verſtand
im Wege ſeyn, und ſie werden nicht bedenken, daß die
Phantaſie ihre eigenen Geſetze hat, denen der Verſtand
nicht beykommen kann und ſoll. Wenn durch die Phan¬
taſie nicht Dinge entſtaͤnden, die fuͤr den Verſtand ewig
problematiſch bleiben, ſo waͤre uͤberhaupt zu der Phan¬
taſie nicht viel. Dieß iſt es, wodurch ſich die Poeſie
von der Proſa unterſcheidet, bey welcher der Verſtand
immer zu Hauſe iſt und ſeyn mag und ſoll.“
Ich freute mich dieſes bedeutenden Wortes und merkte
es mir. Darauf ſchickte ich mich an zum Gehen, denn
es war gegen zehn Uhr geworden. Wir ſaßen ohne
Licht, die helle Sommer-Nacht leuchtete aus Norden
uͤber den Ettersberg heruͤber.
Montag Abend den 9. July 1827.
Ich fand Goethe allein, in Betrachtung der Gyps-
Paſten nach dem Stoſchiſchen Cabinet. „Man iſt in
Berlin ſo freundlich geweſen, ſagte er, mir dieſe ganze
Sammlung zur Anſicht herzuſenden; ich kenne die ſchoͤ¬
nen Sachen ſchon dem groͤßten Theile nach, hier aber
ſehe ich ſie in der belehrenden Folge, wie Winckelmann
ſie geordnet hat; auch benutze ich ſeine Beſchreibung und
ſehe ſeine Meinung nach in Faͤllen, wo ich ſelber zweifle.“
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/386>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.