Begleitet von dem Manuscript der Novelle und einer Ausgabe des Beranger ging ich gegen sieben Uhr zu Goethe. Ich fand Herrn Soret bey ihm in Ge¬ sprächen über die neue französische Literatur. Ich hörte mit Interesse zu und es kam zur Sprache, daß die neuesten Talente hinsichtlich guter Verse sehr viel von Delille gelernt. Da Herrn Soret, als einem geborenen Genfer, das Deutsche nicht ganz geläufig war, Goethe aber im Französischen sich ziemlich bequem ausdrückt, so ging die Unterhaltung französisch und nur an solchen Stellen deutsch, wo ich mich in das Gespräch mischte. Ich zog den Beranger aus der Tasche und überreichte ihn Goethe, der diese trefflichen Lieder von neuem zu lesen wünschte. Das den Gedichten vorstehende Por¬ trait fand Herr Soret nicht ähnlich. Goethe freute sich die zierliche Ausgabe in Händen zu halten. "Diese Lieder, sagte er, sind vollkommen und als das Beste in ihrer Art anzusehen, besonders wenn man sich das Ge¬ jodel des Refrains hinzudenkt, denn sonst sind sie als Lieder fast zu ernst, zu geistreich, zu epigrammatisch. Ich werde durch Beranger immer an den Horaz und Hafis erinnert, die beyde auch über ihrer Zeit standen und die Sittenverderbniß spottend und spielend zur Sprache brach¬ ten. Beranger hat zu seiner Umgebung dieselbige Stellung¬
Donnerstag Abend den 29. Januar 1827.
Begleitet von dem Manuſcript der Novelle und einer Ausgabe des Béranger ging ich gegen ſieben Uhr zu Goethe. Ich fand Herrn Soret bey ihm in Ge¬ ſpraͤchen uͤber die neue franzoͤſiſche Literatur. Ich hoͤrte mit Intereſſe zu und es kam zur Sprache, daß die neueſten Talente hinſichtlich guter Verſe ſehr viel von Delille gelernt. Da Herrn Soret, als einem geborenen Genfer, das Deutſche nicht ganz gelaͤufig war, Goethe aber im Franzoͤſiſchen ſich ziemlich bequem ausdruͤckt, ſo ging die Unterhaltung franzoͤſiſch und nur an ſolchen Stellen deutſch, wo ich mich in das Geſpraͤch miſchte. Ich zog den Béranger aus der Taſche und uͤberreichte ihn Goethe, der dieſe trefflichen Lieder von neuem zu leſen wuͤnſchte. Das den Gedichten vorſtehende Por¬ trait fand Herr Soret nicht aͤhnlich. Goethe freute ſich die zierliche Ausgabe in Haͤnden zu halten. „Dieſe Lieder, ſagte er, ſind vollkommen und als das Beſte in ihrer Art anzuſehen, beſonders wenn man ſich das Ge¬ jodel des Refrains hinzudenkt, denn ſonſt ſind ſie als Lieder faſt zu ernſt, zu geiſtreich, zu epigrammatiſch. Ich werde durch Béranger immer an den Horaz und Hafis erinnert, die beyde auch uͤber ihrer Zeit ſtanden und die Sittenverderbniß ſpottend und ſpielend zur Sprache brach¬ ten. Béranger hat zu ſeiner Umgebung dieſelbige Stellung¬
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Donnerstag Abend den 29. Januar 1827.
Begleitet von dem Manuſcript der Novelle und
einer Ausgabe des Béranger ging ich gegen ſieben Uhr
zu Goethe. Ich fand Herrn Soret bey ihm in Ge¬
ſpraͤchen uͤber die neue franzoͤſiſche Literatur. Ich hoͤrte
mit Intereſſe zu und es kam zur Sprache, daß die
neueſten Talente hinſichtlich guter Verſe ſehr viel von
Delille gelernt. Da Herrn Soret, als einem geborenen
Genfer, das Deutſche nicht ganz gelaͤufig war, Goethe
aber im Franzoͤſiſchen ſich ziemlich bequem ausdruͤckt,
ſo ging die Unterhaltung franzoͤſiſch und nur an ſolchen
Stellen deutſch, wo ich mich in das Geſpraͤch miſchte.
Ich zog den Béranger aus der Taſche und uͤberreichte
ihn Goethe, der dieſe trefflichen Lieder von neuem zu
leſen wuͤnſchte. Das den Gedichten vorſtehende Por¬
trait fand Herr Soret nicht aͤhnlich. Goethe freute ſich
die zierliche Ausgabe in Haͤnden zu halten. „Dieſe
Lieder, ſagte er, ſind vollkommen und als das Beſte in
ihrer Art anzuſehen, beſonders wenn man ſich das Ge¬
jodel des Refrains hinzudenkt, denn ſonſt ſind ſie als
Lieder faſt zu ernſt, zu geiſtreich, zu epigrammatiſch. Ich
werde durch Béranger immer an den Horaz und Hafis
erinnert, die beyde auch uͤber ihrer Zeit ſtanden und die
Sittenverderbniß ſpottend und ſpielend zur Sprache brach¬
ten. Béranger hat zu ſeiner Umgebung dieſelbige Stellung¬
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/335>, abgerufen am 21.11.2024.
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