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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864.

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Je länger sie betete und ägyptische Hymnen sang, desto
inniger wendete sie sich wiederum den Göttern ihrer Hei-
mat zu, welche sie nach so kurzem Kampfe verleugnet hatte.
Fast alle Gebete, die sie kannte, bezogen sich auf das Leben
nach dem Tode. Jm Reiche des Osiris, in der Unterwelt,
woselbst die zweiundvierzig Todtenrichter den Werth oder
Unwerth der Seele nach der Wägung der Göttin der
Wahrheit und des Himmelsschreibers Thoth beurtheilen
sollten, durfte sie ihre Lieben wiederzusehen hoffen, wenn
ihre ungerechtfertigte Seele nicht die Wanderung durch die
Leiber der Thiere antreten mußte, wenn ihr Körper, der
Seelenträger, erhalten bleiben würde 109). Dieß "wenn"
erfüllte sie mit fieberhafter Unruhe. Die Lehre, daß das
Wohl der Seele an die Erhaltung des zurückbleibenden
irdischen Theils des Jch geknüpft sei, war ihr von Kind-
heit auf eingeprägt worden. Sie glaubte an diesen Wahn,
der Pyramiden gethürmt und Felsen ausgehöhlt hatte, und
erbebte, als sie daran dachte, daß ihr Leichnam, nach per-
sischer Sitte, den Hunden, Raubvögeln und zerstörenden
Mächten preisgegeben und ihrer Seele somit jede Hoffnung
auf das ewige Leben geraubt werden würde. Da kam ihr
der Gedanke, den alten Göttern nochmals untreu zu wer-
den und sich vor den neuen Geistern des Lichts niederzu-
werfen. Diese gaben den abgestorbenen Leib den Elementen,
aus denen er bestand, zurück und prüften nur die Seele
des Verstorbenen. Als sie aber ihre Hände zur großen
Sonne erhob, die soeben mit ihren goldenen Strahlen-
schwertern die im Euphratthale wallenden Nebel besiegte,
als sie den Mithra in neu erlernten Liedern zu preisen
beginnen wollte, da versagte ihr die Stimme, und statt des
Mithra sah sie in dem Gestirn des Tages den Gott, den
sie in Aegypten so oftmals gelobt hatte, den großen Ra,

Je länger ſie betete und ägyptiſche Hymnen ſang, deſto
inniger wendete ſie ſich wiederum den Göttern ihrer Hei-
mat zu, welche ſie nach ſo kurzem Kampfe verleugnet hatte.
Faſt alle Gebete, die ſie kannte, bezogen ſich auf das Leben
nach dem Tode. Jm Reiche des Oſiris, in der Unterwelt,
woſelbſt die zweiundvierzig Todtenrichter den Werth oder
Unwerth der Seele nach der Wägung der Göttin der
Wahrheit und des Himmelsſchreibers Thoth beurtheilen
ſollten, durfte ſie ihre Lieben wiederzuſehen hoffen, wenn
ihre ungerechtfertigte Seele nicht die Wanderung durch die
Leiber der Thiere antreten mußte, wenn ihr Körper, der
Seelenträger, erhalten bleiben würde 109). Dieß „wenn“
erfüllte ſie mit fieberhafter Unruhe. Die Lehre, daß das
Wohl der Seele an die Erhaltung des zurückbleibenden
irdiſchen Theils des Jch geknüpft ſei, war ihr von Kind-
heit auf eingeprägt worden. Sie glaubte an dieſen Wahn,
der Pyramiden gethürmt und Felſen ausgehöhlt hatte, und
erbebte, als ſie daran dachte, daß ihr Leichnam, nach per-
ſiſcher Sitte, den Hunden, Raubvögeln und zerſtörenden
Mächten preisgegeben und ihrer Seele ſomit jede Hoffnung
auf das ewige Leben geraubt werden würde. Da kam ihr
der Gedanke, den alten Göttern nochmals untreu zu wer-
den und ſich vor den neuen Geiſtern des Lichts niederzu-
werfen. Dieſe gaben den abgeſtorbenen Leib den Elementen,
aus denen er beſtand, zurück und prüften nur die Seele
des Verſtorbenen. Als ſie aber ihre Hände zur großen
Sonne erhob, die ſoeben mit ihren goldenen Strahlen-
ſchwertern die im Euphratthale wallenden Nebel beſiegte,
als ſie den Mithra in neu erlernten Liedern zu preiſen
beginnen wollte, da verſagte ihr die Stimme, und ſtatt des
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[185/0187] Je länger ſie betete und ägyptiſche Hymnen ſang, deſto inniger wendete ſie ſich wiederum den Göttern ihrer Hei- mat zu, welche ſie nach ſo kurzem Kampfe verleugnet hatte. Faſt alle Gebete, die ſie kannte, bezogen ſich auf das Leben nach dem Tode. Jm Reiche des Oſiris, in der Unterwelt, woſelbſt die zweiundvierzig Todtenrichter den Werth oder Unwerth der Seele nach der Wägung der Göttin der Wahrheit und des Himmelsſchreibers Thoth beurtheilen ſollten, durfte ſie ihre Lieben wiederzuſehen hoffen, wenn ihre ungerechtfertigte Seele nicht die Wanderung durch die Leiber der Thiere antreten mußte, wenn ihr Körper, der Seelenträger, erhalten bleiben würde 109). Dieß „wenn“ erfüllte ſie mit fieberhafter Unruhe. Die Lehre, daß das Wohl der Seele an die Erhaltung des zurückbleibenden irdiſchen Theils des Jch geknüpft ſei, war ihr von Kind- heit auf eingeprägt worden. Sie glaubte an dieſen Wahn, der Pyramiden gethürmt und Felſen ausgehöhlt hatte, und erbebte, als ſie daran dachte, daß ihr Leichnam, nach per- ſiſcher Sitte, den Hunden, Raubvögeln und zerſtörenden Mächten preisgegeben und ihrer Seele ſomit jede Hoffnung auf das ewige Leben geraubt werden würde. Da kam ihr der Gedanke, den alten Göttern nochmals untreu zu wer- den und ſich vor den neuen Geiſtern des Lichts niederzu- werfen. Dieſe gaben den abgeſtorbenen Leib den Elementen, aus denen er beſtand, zurück und prüften nur die Seele des Verſtorbenen. Als ſie aber ihre Hände zur großen Sonne erhob, die ſoeben mit ihren goldenen Strahlen- ſchwertern die im Euphratthale wallenden Nebel beſiegte, als ſie den Mithra in neu erlernten Liedern zu preiſen beginnen wollte, da verſagte ihr die Stimme, und ſtatt des Mithra ſah ſie in dem Geſtirn des Tages den Gott, den ſie in Aegypten ſo oftmals gelobt hatte, den großen Ra,

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Zitationshilfe: Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter02_1864/187>, abgerufen am 26.04.2024.