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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Sie weisen auf Psychologie und Erkenntnißtheorie zurück.
herauspräparirten Theilinhaltes auf den Organismus der Wirk-
lichkeit, in welchem allein das Leben selber pulsirt, vergessen
werden, vielmehr kann das Erkennen nur von dieser Beziehung
aus den Begriffen und Sätzen ihre genaue Form geben und ihren
angemessenen Erkenntnißwerth zutheilen. Es war der Grundfehler
der abstrakten Schule, die Beziehung des abstrahirten Theilinhaltes
auf das lebendige Ganze außer Acht zu lassen und schließlich diese
Abstraktionen als Realitäten zu behandeln. Es war der com-
plementäre, aber nicht minder verhängnißvolle Irrthum der
historischen Schule, in dem tiefen Gefühl der lebendigen, irrational
gewaltigen, alles Erkennen nach dem Satze vom Grunde über-
schreitenden Wirklichkeit aus der Welt der Abstraktion zu flüchten.



XII.
Die Wissenschaften von den Systemen der Kultur.

Den Ausgangspunkt für das Verständniß des Begriffs von
Systemen
des gesellschaftlichen Lebens bildet der Lebensreichthum
des einzelnen Individuums selber, das als Bestandtheil der Gesell-
schaft Gegenstand der ersten Gruppe von Wissenschaften ist.
Denken wir uns einmal diesen Lebensreichthum in einem gegebenen
Individuum als gänzlich unvergleichbar mit dem in einem anderen
und auf dasselbe nicht übertragbar. Alsdann könnten diese Individua
einander durch physische Gewalt bewältigen und unterjochen, allein
sie besäßen keinen gemeinsamen Inhalt, jedes wäre in sich selber
verschlossen gegen alle anderen. In der That giebt es in jedem
Individuum einen Punkt, an welchem es sich schlechterdings nicht
einordnet in eine solche Coordination seiner Thätigkeiten mit an-
deren. Was von diesem Punkte aus in der Lebensfülle des
Individuums bedingt ist, das geht in keines der Systeme des
gesellschaftlichen Lebens ein. Die Gleichartigkeit der Individuen ist
die Bedingung dafür, daß eine Gemeinsamkeit ihres Lebens-
inhaltes da ist. -- Denken wir uns dann das Leben in einem jeden

Sie weiſen auf Pſychologie und Erkenntnißtheorie zurück.
herauspräparirten Theilinhaltes auf den Organismus der Wirk-
lichkeit, in welchem allein das Leben ſelber pulſirt, vergeſſen
werden, vielmehr kann das Erkennen nur von dieſer Beziehung
aus den Begriffen und Sätzen ihre genaue Form geben und ihren
angemeſſenen Erkenntnißwerth zutheilen. Es war der Grundfehler
der abſtrakten Schule, die Beziehung des abſtrahirten Theilinhaltes
auf das lebendige Ganze außer Acht zu laſſen und ſchließlich dieſe
Abſtraktionen als Realitäten zu behandeln. Es war der com-
plementäre, aber nicht minder verhängnißvolle Irrthum der
hiſtoriſchen Schule, in dem tiefen Gefühl der lebendigen, irrational
gewaltigen, alles Erkennen nach dem Satze vom Grunde über-
ſchreitenden Wirklichkeit aus der Welt der Abſtraktion zu flüchten.



XII.
Die Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur.

Den Ausgangspunkt für das Verſtändniß des Begriffs von
Syſtemen
des geſellſchaftlichen Lebens bildet der Lebensreichthum
des einzelnen Individuums ſelber, das als Beſtandtheil der Geſell-
ſchaft Gegenſtand der erſten Gruppe von Wiſſenſchaften iſt.
Denken wir uns einmal dieſen Lebensreichthum in einem gegebenen
Individuum als gänzlich unvergleichbar mit dem in einem anderen
und auf daſſelbe nicht übertragbar. Alsdann könnten dieſe Individua
einander durch phyſiſche Gewalt bewältigen und unterjochen, allein
ſie beſäßen keinen gemeinſamen Inhalt, jedes wäre in ſich ſelber
verſchloſſen gegen alle anderen. In der That giebt es in jedem
Individuum einen Punkt, an welchem es ſich ſchlechterdings nicht
einordnet in eine ſolche Coordination ſeiner Thätigkeiten mit an-
deren. Was von dieſem Punkte aus in der Lebensfülle des
Individuums bedingt iſt, das geht in keines der Syſteme des
geſellſchaftlichen Lebens ein. Die Gleichartigkeit der Individuen iſt
die Bedingung dafür, daß eine Gemeinſamkeit ihres Lebens-
inhaltes da iſt. — Denken wir uns dann das Leben in einem jeden

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[61/0084] Sie weiſen auf Pſychologie und Erkenntnißtheorie zurück. herauspräparirten Theilinhaltes auf den Organismus der Wirk- lichkeit, in welchem allein das Leben ſelber pulſirt, vergeſſen werden, vielmehr kann das Erkennen nur von dieſer Beziehung aus den Begriffen und Sätzen ihre genaue Form geben und ihren angemeſſenen Erkenntnißwerth zutheilen. Es war der Grundfehler der abſtrakten Schule, die Beziehung des abſtrahirten Theilinhaltes auf das lebendige Ganze außer Acht zu laſſen und ſchließlich dieſe Abſtraktionen als Realitäten zu behandeln. Es war der com- plementäre, aber nicht minder verhängnißvolle Irrthum der hiſtoriſchen Schule, in dem tiefen Gefühl der lebendigen, irrational gewaltigen, alles Erkennen nach dem Satze vom Grunde über- ſchreitenden Wirklichkeit aus der Welt der Abſtraktion zu flüchten. XII. Die Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur. Den Ausgangspunkt für das Verſtändniß des Begriffs von Syſtemen des geſellſchaftlichen Lebens bildet der Lebensreichthum des einzelnen Individuums ſelber, das als Beſtandtheil der Geſell- ſchaft Gegenſtand der erſten Gruppe von Wiſſenſchaften iſt. Denken wir uns einmal dieſen Lebensreichthum in einem gegebenen Individuum als gänzlich unvergleichbar mit dem in einem anderen und auf daſſelbe nicht übertragbar. Alsdann könnten dieſe Individua einander durch phyſiſche Gewalt bewältigen und unterjochen, allein ſie beſäßen keinen gemeinſamen Inhalt, jedes wäre in ſich ſelber verſchloſſen gegen alle anderen. In der That giebt es in jedem Individuum einen Punkt, an welchem es ſich ſchlechterdings nicht einordnet in eine ſolche Coordination ſeiner Thätigkeiten mit an- deren. Was von dieſem Punkte aus in der Lebensfülle des Individuums bedingt iſt, das geht in keines der Syſteme des geſellſchaftlichen Lebens ein. Die Gleichartigkeit der Individuen iſt die Bedingung dafür, daß eine Gemeinſamkeit ihres Lebens- inhaltes da iſt. — Denken wir uns dann das Leben in einem jeden

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/84>, abgerufen am 21.11.2024.