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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
Eine inhaltliche Vorstellung des Weltzusammen-
hangs kann nicht erwiesen werden
.

Indem die Metaphysik ihre Aufgabe weiter verfolgt, ent-
springen aus den Bedingungen derselben neue Schwierigkeiten,
welche eine Lösung der Aufgabe unmöglich machen. Ein be-
stimmter innerer objektiver Zusammenhang der Wirk-
lichkeit, unter Ausschluß der möglichen übrigen, ist nicht
erweisbar
. An einem weiteren Punkte stellen wir daher fest:
Metaphysik als Wissenschaft ist unmöglich.

Denn entweder wird dieser Zusammenhang aus apriorischen
Wahrheiten abgeleitet, oder er wird an dem Gegebenen aufgezeigt. --
Eine Ableitung a priori ist unmöglich. Kant hat die letzte
Konsequenz der Metaphysik in der Richtung fortschreitender Ab-
straktion gezogen, indem er ein System apriorischer Begriffe und
Wahrheiten, wie es schon dem Geiste des Aristoteles und dem
von Descartes vorschwebte, wirklich entwickelte. Er hat aber un-
widerleglich bewiesen, daß auch unter dieser Bedingung "der Ge-
brauch unserer Vernunft nur auf Gegenstände möglicher Erfahrung
reicht". Doch steht vielleicht die Sache der Metaphysik nicht ein-
mal so günstig als Kant annahm. Sind Kausalität und Substanz
gar nicht eindeutig bestimmbare Begriffe, sondern der Ausdruck
unauflöslicher Thatsachen des Bewußtseins, dann entziehen dieselben
sich gänzlich der Benutzung für die denknothwendige Ableitung
eines Weltzusammenhangs. -- Oder die Metaphysik geht von
dem Gegebenen
zu seinen Bedingungen rückwärts, dann
besteht, wenn man von den willkürlichen Einfällen der deutschen
Naturphilosophie absieht, in Bezug auf den Naturlauf darüber
Einstimmigkeit, daß die Analysis desselben auf Massentheilchen,
welche nach Gesetzen auf einander wirken, als auf letzte der Natur-
wissenschaft nothwendige Bedingungen zurückführt. Nun erkannten
wir, daß zwischen dem Bestand dieser Atome und den Thatsachen
ihrer Wechselwirkung, des Naturgesetzes und der Naturformen für
uns keine Art von Verbindung vorhanden ist. Wir sahen, daß

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
Eine inhaltliche Vorſtellung des Weltzuſammen-
hangs kann nicht erwieſen werden
.

Indem die Metaphyſik ihre Aufgabe weiter verfolgt, ent-
ſpringen aus den Bedingungen derſelben neue Schwierigkeiten,
welche eine Löſung der Aufgabe unmöglich machen. Ein be-
ſtimmter innerer objektiver Zuſammenhang der Wirk-
lichkeit, unter Ausſchluß der möglichen übrigen, iſt nicht
erweisbar
. An einem weiteren Punkte ſtellen wir daher feſt:
Metaphyſik als Wiſſenſchaft iſt unmöglich.

Denn entweder wird dieſer Zuſammenhang aus aprioriſchen
Wahrheiten abgeleitet, oder er wird an dem Gegebenen aufgezeigt. —
Eine Ableitung a priori iſt unmöglich. Kant hat die letzte
Konſequenz der Metaphyſik in der Richtung fortſchreitender Ab-
ſtraktion gezogen, indem er ein Syſtem aprioriſcher Begriffe und
Wahrheiten, wie es ſchon dem Geiſte des Ariſtoteles und dem
von Descartes vorſchwebte, wirklich entwickelte. Er hat aber un-
widerleglich bewieſen, daß auch unter dieſer Bedingung „der Ge-
brauch unſerer Vernunft nur auf Gegenſtände möglicher Erfahrung
reicht“. Doch ſteht vielleicht die Sache der Metaphyſik nicht ein-
mal ſo günſtig als Kant annahm. Sind Kauſalität und Subſtanz
gar nicht eindeutig beſtimmbare Begriffe, ſondern der Ausdruck
unauflöslicher Thatſachen des Bewußtſeins, dann entziehen dieſelben
ſich gänzlich der Benutzung für die denknothwendige Ableitung
eines Weltzuſammenhangs. — Oder die Metaphyſik geht von
dem Gegebenen
zu ſeinen Bedingungen rückwärts, dann
beſteht, wenn man von den willkürlichen Einfällen der deutſchen
Naturphiloſophie abſieht, in Bezug auf den Naturlauf darüber
Einſtimmigkeit, daß die Analyſis deſſelben auf Maſſentheilchen,
welche nach Geſetzen auf einander wirken, als auf letzte der Natur-
wiſſenſchaft nothwendige Bedingungen zurückführt. Nun erkannten
wir, daß zwiſchen dem Beſtand dieſer Atome und den Thatſachen
ihrer Wechſelwirkung, des Naturgeſetzes und der Naturformen für
uns keine Art von Verbindung vorhanden iſt. Wir ſahen, daß

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[512/0535] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. Eine inhaltliche Vorſtellung des Weltzuſammen- hangs kann nicht erwieſen werden. Indem die Metaphyſik ihre Aufgabe weiter verfolgt, ent- ſpringen aus den Bedingungen derſelben neue Schwierigkeiten, welche eine Löſung der Aufgabe unmöglich machen. Ein be- ſtimmter innerer objektiver Zuſammenhang der Wirk- lichkeit, unter Ausſchluß der möglichen übrigen, iſt nicht erweisbar. An einem weiteren Punkte ſtellen wir daher feſt: Metaphyſik als Wiſſenſchaft iſt unmöglich. Denn entweder wird dieſer Zuſammenhang aus aprioriſchen Wahrheiten abgeleitet, oder er wird an dem Gegebenen aufgezeigt. — Eine Ableitung a priori iſt unmöglich. Kant hat die letzte Konſequenz der Metaphyſik in der Richtung fortſchreitender Ab- ſtraktion gezogen, indem er ein Syſtem aprioriſcher Begriffe und Wahrheiten, wie es ſchon dem Geiſte des Ariſtoteles und dem von Descartes vorſchwebte, wirklich entwickelte. Er hat aber un- widerleglich bewieſen, daß auch unter dieſer Bedingung „der Ge- brauch unſerer Vernunft nur auf Gegenſtände möglicher Erfahrung reicht“. Doch ſteht vielleicht die Sache der Metaphyſik nicht ein- mal ſo günſtig als Kant annahm. Sind Kauſalität und Subſtanz gar nicht eindeutig beſtimmbare Begriffe, ſondern der Ausdruck unauflöslicher Thatſachen des Bewußtſeins, dann entziehen dieſelben ſich gänzlich der Benutzung für die denknothwendige Ableitung eines Weltzuſammenhangs. — Oder die Metaphyſik geht von dem Gegebenen zu ſeinen Bedingungen rückwärts, dann beſteht, wenn man von den willkürlichen Einfällen der deutſchen Naturphiloſophie abſieht, in Bezug auf den Naturlauf darüber Einſtimmigkeit, daß die Analyſis deſſelben auf Maſſentheilchen, welche nach Geſetzen auf einander wirken, als auf letzte der Natur- wiſſenſchaft nothwendige Bedingungen zurückführt. Nun erkannten wir, daß zwiſchen dem Beſtand dieſer Atome und den Thatſachen ihrer Wechſelwirkung, des Naturgeſetzes und der Naturformen für uns keine Art von Verbindung vorhanden iſt. Wir ſahen, daß

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 512. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/535>, abgerufen am 21.11.2024.