Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Ringen mit dieser Antinomie.
Und die Unmöglichkeit einer Materie neben Gott wird daraus
gezeigt, daß sie Gott einschränken und sonach seine Idee aufheben
würde. -- Andrerseits weisen die Araber nach, daß in dem Zu-
sammenhang der natürlichen Weltansicht die Schöpfung nicht ge-
dacht werden kann. Denn, wie Ibn Roschd richtig folgert, die
Entstehung aus Nichts in der Zeit hebt den Grundsatz der Wissen-
schaft: ex nihilo nihil fit auf. Eine Veränderung, für welche
von außen ein Grund nicht vorliegt und die von innen nicht aus
einer anderen Veränderung folgt, kann nicht gedacht werden1).
Vertheidigen sich Albertus und Thomas hiergegen durch die
Unterscheidung des natürlichen Bewegungssystems und der trans-
scendenten Ursache2): so sind wir hier bei einem Uebergang aus
dem Uebersinnlichen zu den Naturvorgängen angekommen, welcher
sich der Vorstellbarkeit entzieht. Daher denn schon von Thomas
ab die Schöpfung dem Glauben überlassen und von der Metaphysik
ausgeschlossen wurde.

Eine andere Antinomie ist mit dieser verknüpft, führt aber
bereits in die metaphysische Behandlung der Geisteswissenschaften.
In Gottes Verstande ist die Wirklichkeit in ewigen Wahrheiten
und in der Form des Allgemeinen gegeben, in seinem Willen
als Geschichte, und in dem Zusammenhang derselben ist es gerade
die einzelne Person, auf welche der göttliche Wille sich bezieht.

Diese Antinomien können in keiner Metaphysik
aufgelöst werden.

So entsteht der innerlich widerspruchsvolle Charakter der
mittelalterlichen Metaphysik. Der objektive und denknothwendige

Emunot, übers. v. Fürst S. 122, und anders gewendet bei Maimuni, More
Nebochim I c. 74, 2 (Munk I, 422).
1) Averroes destruct. destr. I disp. 1 fol. 15 ff.
2) Besonders Thomas contra gentil. II c. 10. p. 140 b; c. 16 sq. p. 145 a;
c. 37 p. 177 a
und summa theol. I qu. 45 art. 2: antiqui philosophi non
consideraverunt nisi emanationem effectuum particularium a causis par-
ticularibus, quas necesse est praesupponere aliquid in sua actione. et
secundum hoc erat eorum communis opinio, ex nihilo nihil fieri. sed
tamen hoc locum non habet in prima emanatione ab universali rerum
principio.

Das Ringen mit dieſer Antinomie.
Und die Unmöglichkeit einer Materie neben Gott wird daraus
gezeigt, daß ſie Gott einſchränken und ſonach ſeine Idee aufheben
würde. — Andrerſeits weiſen die Araber nach, daß in dem Zu-
ſammenhang der natürlichen Weltanſicht die Schöpfung nicht ge-
dacht werden kann. Denn, wie Ibn Roſchd richtig folgert, die
Entſtehung aus Nichts in der Zeit hebt den Grundſatz der Wiſſen-
ſchaft: ex nihilo nihil fit auf. Eine Veränderung, für welche
von außen ein Grund nicht vorliegt und die von innen nicht aus
einer anderen Veränderung folgt, kann nicht gedacht werden1).
Vertheidigen ſich Albertus und Thomas hiergegen durch die
Unterſcheidung des natürlichen Bewegungsſyſtems und der trans-
ſcendenten Urſache2): ſo ſind wir hier bei einem Uebergang aus
dem Ueberſinnlichen zu den Naturvorgängen angekommen, welcher
ſich der Vorſtellbarkeit entzieht. Daher denn ſchon von Thomas
ab die Schöpfung dem Glauben überlaſſen und von der Metaphyſik
ausgeſchloſſen wurde.

Eine andere Antinomie iſt mit dieſer verknüpft, führt aber
bereits in die metaphyſiſche Behandlung der Geiſteswiſſenſchaften.
In Gottes Verſtande iſt die Wirklichkeit in ewigen Wahrheiten
und in der Form des Allgemeinen gegeben, in ſeinem Willen
als Geſchichte, und in dem Zuſammenhang derſelben iſt es gerade
die einzelne Perſon, auf welche der göttliche Wille ſich bezieht.

Dieſe Antinomien können in keiner Metaphyſik
aufgelöſt werden.

So entſteht der innerlich widerſpruchsvolle Charakter der
mittelalterlichen Metaphyſik. Der objektive und denknothwendige

Emunot, überſ. v. Fürſt S. 122, und anders gewendet bei Maimuni, More
Nebochim I c. 74, 2 (Munk I, 422).
1) Averroes destruct. destr. I disp. 1 fol. 15 ff.
2) Beſonders Thomas contra gentil. II c. 10. p. 140 b; c. 16 sq. p. 145 a;
c. 37 p. 177 a
und summa theol. I qu. 45 art. 2: antiqui philosophi non
consideraverunt nisi emanationem effectuum particularium a causis par-
ticularibus, quas necesse est praesupponere aliquid in sua actione. et
secundum hoc erat eorum communis opinio, ex nihilo nihil fieri. sed
tamen hoc locum non habet in prima emanatione ab universali rerum
principio.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0438" n="415"/><fw place="top" type="header">Das Ringen mit die&#x017F;er Antinomie.</fw><lb/>
Und die Unmöglichkeit einer Materie neben Gott wird daraus<lb/>
gezeigt, daß &#x017F;ie Gott ein&#x017F;chränken und &#x017F;onach &#x017F;eine Idee aufheben<lb/>
würde. &#x2014; Andrer&#x017F;eits wei&#x017F;en die <hi rendition="#g">Araber</hi> nach, daß in dem Zu-<lb/>
&#x017F;ammenhang der natürlichen Weltan&#x017F;icht die Schöpfung nicht ge-<lb/>
dacht werden kann. Denn, wie Ibn Ro&#x017F;chd richtig folgert, die<lb/>
Ent&#x017F;tehung aus Nichts in der Zeit hebt den Grund&#x017F;atz der Wi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaft: <hi rendition="#aq">ex nihilo nihil fit</hi> auf. Eine Veränderung, für welche<lb/>
von außen ein Grund nicht vorliegt und die von innen nicht aus<lb/>
einer anderen Veränderung folgt, kann nicht gedacht werden<note place="foot" n="1)">Averroes <hi rendition="#aq">destruct. destr. I disp. 1 fol.</hi> 15 ff.</note>.<lb/>
Vertheidigen &#x017F;ich Albertus und Thomas hiergegen durch die<lb/>
Unter&#x017F;cheidung des natürlichen Bewegungs&#x017F;y&#x017F;tems und der trans-<lb/>
&#x017F;cendenten Ur&#x017F;ache<note place="foot" n="2)">Be&#x017F;onders Thomas <hi rendition="#aq">contra gentil. II c. 10. p. 140 <hi rendition="#sup">b</hi>; c. 16 sq. p. 145 <hi rendition="#sup">a</hi>;<lb/>
c. 37 p. 177 <hi rendition="#sup">a</hi></hi> und <hi rendition="#aq">summa theol. I qu. 45 art. 2: antiqui philosophi non<lb/>
consideraverunt nisi emanationem effectuum particularium a causis par-<lb/>
ticularibus, quas necesse est praesupponere aliquid in sua actione. et<lb/>
secundum hoc erat eorum communis opinio, ex nihilo nihil fieri. sed<lb/>
tamen hoc locum non habet in prima emanatione ab universali rerum<lb/>
principio.</hi></note>: &#x017F;o &#x017F;ind wir hier bei einem Uebergang aus<lb/>
dem Ueber&#x017F;innlichen zu den Naturvorgängen angekommen, welcher<lb/>
&#x017F;ich der Vor&#x017F;tellbarkeit entzieht. Daher denn &#x017F;chon von Thomas<lb/>
ab die Schöpfung dem Glauben überla&#x017F;&#x017F;en und von der Metaphy&#x017F;ik<lb/>
ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en wurde.</p><lb/>
                <p>Eine andere Antinomie i&#x017F;t mit die&#x017F;er verknüpft, führt aber<lb/>
bereits in die metaphy&#x017F;i&#x017F;che Behandlung der Gei&#x017F;teswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften.<lb/>
In Gottes Ver&#x017F;tande i&#x017F;t die Wirklichkeit in ewigen Wahrheiten<lb/>
und in der Form des <hi rendition="#g">Allgemeinen</hi> gegeben, in &#x017F;einem Willen<lb/>
als Ge&#x017F;chichte, und in dem Zu&#x017F;ammenhang der&#x017F;elben i&#x017F;t es gerade<lb/>
die einzelne Per&#x017F;on, auf welche der göttliche Wille &#x017F;ich bezieht.</p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head> <hi rendition="#g">Die&#x017F;e Antinomien können in keiner Metaphy&#x017F;ik<lb/>
aufgelö&#x017F;t werden.</hi> </head><lb/>
                <p>So ent&#x017F;teht der innerlich wider&#x017F;pruchsvolle Charakter der<lb/>
mittelalterlichen Metaphy&#x017F;ik. Der objektive und denknothwendige<lb/><note xml:id="note-0438" prev="#note-0437" place="foot" n="1)">Emunot, über&#x017F;. v. Für&#x017F;t S. 122, und anders gewendet bei Maimuni, More<lb/>
Nebochim <hi rendition="#aq">I c.</hi> 74, 2 (Munk <hi rendition="#aq">I</hi>, 422).</note><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[415/0438] Das Ringen mit dieſer Antinomie. Und die Unmöglichkeit einer Materie neben Gott wird daraus gezeigt, daß ſie Gott einſchränken und ſonach ſeine Idee aufheben würde. — Andrerſeits weiſen die Araber nach, daß in dem Zu- ſammenhang der natürlichen Weltanſicht die Schöpfung nicht ge- dacht werden kann. Denn, wie Ibn Roſchd richtig folgert, die Entſtehung aus Nichts in der Zeit hebt den Grundſatz der Wiſſen- ſchaft: ex nihilo nihil fit auf. Eine Veränderung, für welche von außen ein Grund nicht vorliegt und die von innen nicht aus einer anderen Veränderung folgt, kann nicht gedacht werden 1). Vertheidigen ſich Albertus und Thomas hiergegen durch die Unterſcheidung des natürlichen Bewegungsſyſtems und der trans- ſcendenten Urſache 2): ſo ſind wir hier bei einem Uebergang aus dem Ueberſinnlichen zu den Naturvorgängen angekommen, welcher ſich der Vorſtellbarkeit entzieht. Daher denn ſchon von Thomas ab die Schöpfung dem Glauben überlaſſen und von der Metaphyſik ausgeſchloſſen wurde. Eine andere Antinomie iſt mit dieſer verknüpft, führt aber bereits in die metaphyſiſche Behandlung der Geiſteswiſſenſchaften. In Gottes Verſtande iſt die Wirklichkeit in ewigen Wahrheiten und in der Form des Allgemeinen gegeben, in ſeinem Willen als Geſchichte, und in dem Zuſammenhang derſelben iſt es gerade die einzelne Perſon, auf welche der göttliche Wille ſich bezieht. Dieſe Antinomien können in keiner Metaphyſik aufgelöſt werden. So entſteht der innerlich widerſpruchsvolle Charakter der mittelalterlichen Metaphyſik. Der objektive und denknothwendige 1) 1) Averroes destruct. destr. I disp. 1 fol. 15 ff. 2) Beſonders Thomas contra gentil. II c. 10. p. 140 b; c. 16 sq. p. 145 a; c. 37 p. 177 a und summa theol. I qu. 45 art. 2: antiqui philosophi non consideraverunt nisi emanationem effectuum particularium a causis par- ticularibus, quas necesse est praesupponere aliquid in sua actione. et secundum hoc erat eorum communis opinio, ex nihilo nihil fieri. sed tamen hoc locum non habet in prima emanatione ab universali rerum principio. 1) Emunot, überſ. v. Fürſt S. 122, und anders gewendet bei Maimuni, More Nebochim I c. 74, 2 (Munk I, 422).

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/438
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 415. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/438>, abgerufen am 21.11.2024.