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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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seelt das moderne Prinzip der unabhängigen Willensmacht der
Person. Das Objekt des Wissens sind die Einzeldinge; die allge-
meinen Begriffe Zeichen; das Band zwischen ihnen und dem gött-
lichen Intellekt, das alle Vernunftwissenschaft zusammengehalten
hatte, ist zerrissen; und die praktische Theologie selber wird zersetzt
von dem Gegensatz der scholastischen Verstandeserörterung als ihrer
Form, und der Willenserfahrung als ihres Inhaltes.

Als Luther, ein eifriger Leser Occam's, die Independenz
der Erfahrungen des Willens aussprach und den persönlichen
Glauben von aller Metaphysik auch in Bezug auf die Form son-
derte, da war die Metaphysik des Mittelalters durch eine freiere
Gestalt des Bewußtseins abgelöst. Aber so langsam arbeitet die
Wahrheit in der Geschichte, daß die altprotestantische Dogmatik
wie in einem Schattenspiel die Begriffe der mittelalterlichen theo-
logischen Metaphysik wieder erscheinen ließ. Die Gedankenmäßigkeit
der äußeren Welt ist die Grundvoraussetzung der Wissenschaft, und
das System der Erscheinungen nach dem Satze vom Grunde ist
ihr Ideal; wo aber die Erfahrungen des Willens und des Ge-
müths beginnen, hat eine solche Erkenntniß keine Stelle mehr.

Antinomie zwischen der Ewigkeit der Welt und
ihrer Schöpfung in der Zeit
.

Die Antinomie, welche die mittelalterliche Metaphysik im Inner-
sten zerreißt, setzt sich in die Auffassung des Verhältnisses Gottes zur
Welt fort. Der Wissenschaft vom Kosmos ist die Welt ewig, der
Erfahrung des Willens Schöpfung aus Nichts in der Zeit. Die
arabischen Peripatetiker sind die Repräsentanten der ersteren Lehre,
und wie die Leugnung der Unsterblichkeit hat die Ueberzeugung von
der Ewigkeit der Welt und der Unabhängigkeit der Materie dem
abendländischen Mittelalter die Gestalt des Ibn Roschd zu einem
Typus des metaphysischen Unglaubens gemacht. Von Albertus ab
bekämpft die abendländische Metaphysik diese Ueberzeugung mit
einleuchtenden Gründen. Sie versucht ihrerseits vergeblich, die

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
ſeelt das moderne Prinzip der unabhängigen Willensmacht der
Perſon. Das Objekt des Wiſſens ſind die Einzeldinge; die allge-
meinen Begriffe Zeichen; das Band zwiſchen ihnen und dem gött-
lichen Intellekt, das alle Vernunftwiſſenſchaft zuſammengehalten
hatte, iſt zerriſſen; und die praktiſche Theologie ſelber wird zerſetzt
von dem Gegenſatz der ſcholaſtiſchen Verſtandeserörterung als ihrer
Form, und der Willenserfahrung als ihres Inhaltes.

Als Luther, ein eifriger Leſer Occam’s, die Independenz
der Erfahrungen des Willens ausſprach und den perſönlichen
Glauben von aller Metaphyſik auch in Bezug auf die Form ſon-
derte, da war die Metaphyſik des Mittelalters durch eine freiere
Geſtalt des Bewußtſeins abgelöſt. Aber ſo langſam arbeitet die
Wahrheit in der Geſchichte, daß die altproteſtantiſche Dogmatik
wie in einem Schattenſpiel die Begriffe der mittelalterlichen theo-
logiſchen Metaphyſik wieder erſcheinen ließ. Die Gedankenmäßigkeit
der äußeren Welt iſt die Grundvorausſetzung der Wiſſenſchaft, und
das Syſtem der Erſcheinungen nach dem Satze vom Grunde iſt
ihr Ideal; wo aber die Erfahrungen des Willens und des Ge-
müths beginnen, hat eine ſolche Erkenntniß keine Stelle mehr.

Antinomie zwiſchen der Ewigkeit der Welt und
ihrer Schöpfung in der Zeit
.

Die Antinomie, welche die mittelalterliche Metaphyſik im Inner-
ſten zerreißt, ſetzt ſich in die Auffaſſung des Verhältniſſes Gottes zur
Welt fort. Der Wiſſenſchaft vom Kosmos iſt die Welt ewig, der
Erfahrung des Willens Schöpfung aus Nichts in der Zeit. Die
arabiſchen Peripatetiker ſind die Repräſentanten der erſteren Lehre,
und wie die Leugnung der Unſterblichkeit hat die Ueberzeugung von
der Ewigkeit der Welt und der Unabhängigkeit der Materie dem
abendländiſchen Mittelalter die Geſtalt des Ibn Roſchd zu einem
Typus des metaphyſiſchen Unglaubens gemacht. Von Albertus ab
bekämpft die abendländiſche Metaphyſik dieſe Ueberzeugung mit
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[412/0435] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. ſeelt das moderne Prinzip der unabhängigen Willensmacht der Perſon. Das Objekt des Wiſſens ſind die Einzeldinge; die allge- meinen Begriffe Zeichen; das Band zwiſchen ihnen und dem gött- lichen Intellekt, das alle Vernunftwiſſenſchaft zuſammengehalten hatte, iſt zerriſſen; und die praktiſche Theologie ſelber wird zerſetzt von dem Gegenſatz der ſcholaſtiſchen Verſtandeserörterung als ihrer Form, und der Willenserfahrung als ihres Inhaltes. Als Luther, ein eifriger Leſer Occam’s, die Independenz der Erfahrungen des Willens ausſprach und den perſönlichen Glauben von aller Metaphyſik auch in Bezug auf die Form ſon- derte, da war die Metaphyſik des Mittelalters durch eine freiere Geſtalt des Bewußtſeins abgelöſt. Aber ſo langſam arbeitet die Wahrheit in der Geſchichte, daß die altproteſtantiſche Dogmatik wie in einem Schattenſpiel die Begriffe der mittelalterlichen theo- logiſchen Metaphyſik wieder erſcheinen ließ. Die Gedankenmäßigkeit der äußeren Welt iſt die Grundvorausſetzung der Wiſſenſchaft, und das Syſtem der Erſcheinungen nach dem Satze vom Grunde iſt ihr Ideal; wo aber die Erfahrungen des Willens und des Ge- müths beginnen, hat eine ſolche Erkenntniß keine Stelle mehr. Antinomie zwiſchen der Ewigkeit der Welt und ihrer Schöpfung in der Zeit. Die Antinomie, welche die mittelalterliche Metaphyſik im Inner- ſten zerreißt, ſetzt ſich in die Auffaſſung des Verhältniſſes Gottes zur Welt fort. Der Wiſſenſchaft vom Kosmos iſt die Welt ewig, der Erfahrung des Willens Schöpfung aus Nichts in der Zeit. Die arabiſchen Peripatetiker ſind die Repräſentanten der erſteren Lehre, und wie die Leugnung der Unſterblichkeit hat die Ueberzeugung von der Ewigkeit der Welt und der Unabhängigkeit der Materie dem abendländiſchen Mittelalter die Geſtalt des Ibn Roſchd zu einem Typus des metaphyſiſchen Unglaubens gemacht. Von Albertus ab bekämpft die abendländiſche Metaphyſik dieſe Ueberzeugung mit einleuchtenden Gründen. Sie verſucht ihrerſeits vergeblich, die

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/435>, abgerufen am 21.11.2024.