Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
lichkeit, das System der kosmologischen Sätze nur höchst un-
vollkommen entwickelt, und was es dem Erwerb des Alter-
thums zufügte, war ein aus dem Interesse an der transscendenten
Welt stammendes Problem. Denn die Antinomien, welche die
Kritik der Eleaten, Sophisten und Skeptiker in der Weltvor-
stellung aufgezeigt hatte, wie räumliche Endlichkeit und räumliche
Unendlichkeit, Stätigkeit der äußeren Wirklichkeit und Zerlegbarkeit
in diskrete Theile, wurden nun vergessen oder die Schärfe ihrer
Begriffe wurde abgestumpft. Dagegen trat diejenige hervor, welche
den Angelpunkt aller Kämpfe des späteren Mittelalters um die
verstandesmäßige Begründung der christlichen Gottesidee bildet.
Dies ist die Antinomie zwischen dem Theorem von der Ewigkeit
der Welt und dem von der Schöpfung d. h. dem Ursprung der
Welt in der Zeit aus dem bloßen Willen Gottes. Die Folge-
richtigkeit des Weltzusammenhangs nach den der Außenwelt an-
gehörigen Verhältnissen der Bewegungen zu einander, deren Re-
präsentanten Aristoteles und Ibn Roschd, der Aristoteles der
Araber, waren, fand sich in Widerspruch mit der christlichen
Glaubenswelt, und dies war der wichtigste Theil des sogenannten
Kampfes zwischen Glaube und Unglaube im Mittelalter.

3. Innerer Widerspruch der mittelalterlichen
Metaphysik, der aus der Verknüpfung der Theologie
mit der Wissenschaft vom Kosmos entspringt.
Charakter der so entstehenden Systeme.

Aus der Vereinigung zweier Ströme, deren einer in Europa
entsprungen war, der andere im Morgenlande, ist die mittelalter-
liche Metaphysik hervorgegangen. Indem sie in diesem Stadium
ihre Aufgabe vollständiger umfaßte, machte sich in ihr die An-
tinomie zwischen der inneren Erfahrung und dem Vorstellen, dem
Erkennen viel gründlicher als vorher geltend. Diese Antinomie
erscheint nun als Widerspruch zwischen dem Zusammenhang der
Natur, deren Begriff von der äußeren Wahrnehmung aus fest-
gestellt wird, und der moralisch-religiösen Weltordnung, deren

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
lichkeit, das Syſtem der kosmologiſchen Sätze nur höchſt un-
vollkommen entwickelt, und was es dem Erwerb des Alter-
thums zufügte, war ein aus dem Intereſſe an der transſcendenten
Welt ſtammendes Problem. Denn die Antinomien, welche die
Kritik der Eleaten, Sophiſten und Skeptiker in der Weltvor-
ſtellung aufgezeigt hatte, wie räumliche Endlichkeit und räumliche
Unendlichkeit, Stätigkeit der äußeren Wirklichkeit und Zerlegbarkeit
in diskrete Theile, wurden nun vergeſſen oder die Schärfe ihrer
Begriffe wurde abgeſtumpft. Dagegen trat diejenige hervor, welche
den Angelpunkt aller Kämpfe des ſpäteren Mittelalters um die
verſtandesmäßige Begründung der chriſtlichen Gottesidee bildet.
Dies iſt die Antinomie zwiſchen dem Theorem von der Ewigkeit
der Welt und dem von der Schöpfung d. h. dem Urſprung der
Welt in der Zeit aus dem bloßen Willen Gottes. Die Folge-
richtigkeit des Weltzuſammenhangs nach den der Außenwelt an-
gehörigen Verhältniſſen der Bewegungen zu einander, deren Re-
präſentanten Ariſtoteles und Ibn Roſchd, der Ariſtoteles der
Araber, waren, fand ſich in Widerſpruch mit der chriſtlichen
Glaubenswelt, und dies war der wichtigſte Theil des ſogenannten
Kampfes zwiſchen Glaube und Unglaube im Mittelalter.

3. Innerer Widerſpruch der mittelalterlichen
Metaphyſik, der aus der Verknüpfung der Theologie
mit der Wiſſenſchaft vom Kosmos entſpringt.
Charakter der ſo entſtehenden Syſteme.

Aus der Vereinigung zweier Ströme, deren einer in Europa
entſprungen war, der andere im Morgenlande, iſt die mittelalter-
liche Metaphyſik hervorgegangen. Indem ſie in dieſem Stadium
ihre Aufgabe vollſtändiger umfaßte, machte ſich in ihr die An-
tinomie zwiſchen der inneren Erfahrung und dem Vorſtellen, dem
Erkennen viel gründlicher als vorher geltend. Dieſe Antinomie
erſcheint nun als Widerſpruch zwiſchen dem Zuſammenhang der
Natur, deren Begriff von der äußeren Wahrnehmung aus feſt-
geſtellt wird, und der moraliſch-religiöſen Weltordnung, deren

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0425" n="402"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Dritter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
lichkeit, das Sy&#x017F;tem der <hi rendition="#g">kosmologi&#x017F;chen</hi> Sätze nur höch&#x017F;t un-<lb/>
vollkommen entwickelt, und was es dem Erwerb des Alter-<lb/>
thums zufügte, war ein aus dem Intere&#x017F;&#x017F;e an der trans&#x017F;cendenten<lb/>
Welt &#x017F;tammendes Problem. Denn die Antinomien, welche die<lb/>
Kritik der Eleaten, Sophi&#x017F;ten und Skeptiker in der Weltvor-<lb/>
&#x017F;tellung aufgezeigt hatte, wie räumliche Endlichkeit und räumliche<lb/>
Unendlichkeit, Stätigkeit der äußeren Wirklichkeit und Zerlegbarkeit<lb/>
in diskrete Theile, wurden nun verge&#x017F;&#x017F;en oder die Schärfe ihrer<lb/>
Begriffe wurde abge&#x017F;tumpft. Dagegen trat diejenige hervor, welche<lb/>
den Angelpunkt aller Kämpfe des &#x017F;päteren Mittelalters um die<lb/>
ver&#x017F;tandesmäßige Begründung der chri&#x017F;tlichen Gottesidee bildet.<lb/>
Dies i&#x017F;t die Antinomie zwi&#x017F;chen dem Theorem von der Ewigkeit<lb/>
der Welt und dem von der Schöpfung d. h. dem Ur&#x017F;prung der<lb/>
Welt in der Zeit aus dem bloßen Willen Gottes. Die Folge-<lb/>
richtigkeit des Weltzu&#x017F;ammenhangs nach den der Außenwelt an-<lb/>
gehörigen Verhältni&#x017F;&#x017F;en der Bewegungen zu einander, deren Re-<lb/>
prä&#x017F;entanten Ari&#x017F;toteles und Ibn Ro&#x017F;chd, der Ari&#x017F;toteles der<lb/>
Araber, waren, fand &#x017F;ich in Wider&#x017F;pruch mit der chri&#x017F;tlichen<lb/>
Glaubenswelt, und dies war der wichtig&#x017F;te Theil des &#x017F;ogenannten<lb/>
Kampfes zwi&#x017F;chen Glaube und Unglaube im Mittelalter.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#g">3. Innerer Wider&#x017F;pruch der mittelalterlichen<lb/>
Metaphy&#x017F;ik, der aus der Verknüpfung der Theologie<lb/>
mit der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft vom Kosmos ent&#x017F;pringt.</hi> </head><lb/>
              <div n="5">
                <head> <hi rendition="#g">Charakter der &#x017F;o ent&#x017F;tehenden Sy&#x017F;teme.</hi> </head><lb/>
                <p>Aus der Vereinigung zweier Ströme, deren einer in Europa<lb/>
ent&#x017F;prungen war, der andere im Morgenlande, i&#x017F;t die mittelalter-<lb/>
liche Metaphy&#x017F;ik hervorgegangen. Indem &#x017F;ie in die&#x017F;em Stadium<lb/>
ihre Aufgabe voll&#x017F;tändiger umfaßte, machte &#x017F;ich in ihr die An-<lb/>
tinomie zwi&#x017F;chen der inneren Erfahrung und dem Vor&#x017F;tellen, dem<lb/>
Erkennen viel gründlicher als vorher geltend. Die&#x017F;e Antinomie<lb/>
er&#x017F;cheint nun als Wider&#x017F;pruch zwi&#x017F;chen dem Zu&#x017F;ammenhang der<lb/>
Natur, deren Begriff von der äußeren Wahrnehmung aus fe&#x017F;t-<lb/>
ge&#x017F;tellt wird, und der morali&#x017F;ch-religiö&#x017F;en Weltordnung, deren<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[402/0425] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. lichkeit, das Syſtem der kosmologiſchen Sätze nur höchſt un- vollkommen entwickelt, und was es dem Erwerb des Alter- thums zufügte, war ein aus dem Intereſſe an der transſcendenten Welt ſtammendes Problem. Denn die Antinomien, welche die Kritik der Eleaten, Sophiſten und Skeptiker in der Weltvor- ſtellung aufgezeigt hatte, wie räumliche Endlichkeit und räumliche Unendlichkeit, Stätigkeit der äußeren Wirklichkeit und Zerlegbarkeit in diskrete Theile, wurden nun vergeſſen oder die Schärfe ihrer Begriffe wurde abgeſtumpft. Dagegen trat diejenige hervor, welche den Angelpunkt aller Kämpfe des ſpäteren Mittelalters um die verſtandesmäßige Begründung der chriſtlichen Gottesidee bildet. Dies iſt die Antinomie zwiſchen dem Theorem von der Ewigkeit der Welt und dem von der Schöpfung d. h. dem Urſprung der Welt in der Zeit aus dem bloßen Willen Gottes. Die Folge- richtigkeit des Weltzuſammenhangs nach den der Außenwelt an- gehörigen Verhältniſſen der Bewegungen zu einander, deren Re- präſentanten Ariſtoteles und Ibn Roſchd, der Ariſtoteles der Araber, waren, fand ſich in Widerſpruch mit der chriſtlichen Glaubenswelt, und dies war der wichtigſte Theil des ſogenannten Kampfes zwiſchen Glaube und Unglaube im Mittelalter. 3. Innerer Widerſpruch der mittelalterlichen Metaphyſik, der aus der Verknüpfung der Theologie mit der Wiſſenſchaft vom Kosmos entſpringt. Charakter der ſo entſtehenden Syſteme. Aus der Vereinigung zweier Ströme, deren einer in Europa entſprungen war, der andere im Morgenlande, iſt die mittelalter- liche Metaphyſik hervorgegangen. Indem ſie in dieſem Stadium ihre Aufgabe vollſtändiger umfaßte, machte ſich in ihr die An- tinomie zwiſchen der inneren Erfahrung und dem Vorſtellen, dem Erkennen viel gründlicher als vorher geltend. Dieſe Antinomie erſcheint nun als Widerſpruch zwiſchen dem Zuſammenhang der Natur, deren Begriff von der äußeren Wahrnehmung aus feſt- geſtellt wird, und der moraliſch-religiöſen Weltordnung, deren

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/425
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/425>, abgerufen am 21.11.2024.