Fortg. d. Differenz. d. Wissensch. u. Absond. d. Einzelwissenschaften.
ein. Wir können nicht erkennen, welche Gemüthsverfassung für uns das Gute sei, da wir nicht einmal wissen, ob und was die Seele ist, um deren Verfassung es sich handelt. Ein grober Trugschluß des Skepticismus!
Die nacharistotelische Metaphysik und ihr subjektiver Charakter.
Die Philosophie war die organisatorische Macht gewesen, welche noch zuletzt in der aristotelischen Schule den ganzen Inbegriff der wissenschaftlichen Forschungen geleitet hatte, wie in der platonischen Schule die mathematische und astronomische. Die Geschichte des skeptischen Geistes, wie wir ihn geschildert haben, zeigt aber, daß auch die Vollendung der Metaphysik in Aristoteles nicht vermocht hatte, den negativen erkenntnißtheoretischen Standpunkt, welcher in den Sophisten zunächst einer unvollkommneren Metaphysik gegen- übergetreten war, zu überwinden. Andrerseits war nunmehr eine Aenderung dadurch vorbereitet, daß unter dem organisatorischen Ein- fluß der metaphysischen Philosophie Natur- und Geisteswissen- schaften herangewachsen waren. So vollzog sich in dem großen Differenzirungsproceß des europäischen Geistes eine weitere Sonderung. Von der Metaphysik, der Naturphilosophie und der praktischen Philosophie lösten sich nunmehr die Einzelwissen- schaften bis zu einem gewissen Grade los. Jedoch geschah diese Abtrennung noch nicht so folgerichtig als in der neueren Zeit. Viele der bedeutendsten positiven Forscher blieben in einem Schulver- band oder doch in innerer Beziehung zu einer der metaphysischen Schulen. Diesem Gange der Entwicklung entsprach, daß zugleich neue metaphysische Sekten entstanden, welche sich in den Dienst der persönlichen Befriedigung des Gemüths begaben.
So sondern sich eine Metaphysik, welche die Leitung der wissenschaftlichen Bewegung aufgiebt, und Einzelwissenschaften, die sich positiv, von Empirie und Vergleichung aus, entwickeln. Stoische, epikureische, eklektische Metaphysik waren Mächte der Kultur, der großen gebildeten Gesellschaft; die Einzelwissenschaft
Dilthey, Einleitung. 20
Fortg. d. Differenz. d. Wiſſenſch. u. Abſond. d. Einzelwiſſenſchaften.
ein. Wir können nicht erkennen, welche Gemüthsverfaſſung für uns das Gute ſei, da wir nicht einmal wiſſen, ob und was die Seele iſt, um deren Verfaſſung es ſich handelt. Ein grober Trugſchluß des Skepticismus!
Die nachariſtoteliſche Metaphyſik und ihr ſubjektiver Charakter.
Die Philoſophie war die organiſatoriſche Macht geweſen, welche noch zuletzt in der ariſtoteliſchen Schule den ganzen Inbegriff der wiſſenſchaftlichen Forſchungen geleitet hatte, wie in der platoniſchen Schule die mathematiſche und aſtronomiſche. Die Geſchichte des ſkeptiſchen Geiſtes, wie wir ihn geſchildert haben, zeigt aber, daß auch die Vollendung der Metaphyſik in Ariſtoteles nicht vermocht hatte, den negativen erkenntnißtheoretiſchen Standpunkt, welcher in den Sophiſten zunächſt einer unvollkommneren Metaphyſik gegen- übergetreten war, zu überwinden. Andrerſeits war nunmehr eine Aenderung dadurch vorbereitet, daß unter dem organiſatoriſchen Ein- fluß der metaphyſiſchen Philoſophie Natur- und Geiſteswiſſen- ſchaften herangewachſen waren. So vollzog ſich in dem großen Differenzirungsproceß des europäiſchen Geiſtes eine weitere Sonderung. Von der Metaphyſik, der Naturphiloſophie und der praktiſchen Philoſophie löſten ſich nunmehr die Einzelwiſſen- ſchaften bis zu einem gewiſſen Grade los. Jedoch geſchah dieſe Abtrennung noch nicht ſo folgerichtig als in der neueren Zeit. Viele der bedeutendſten poſitiven Forſcher blieben in einem Schulver- band oder doch in innerer Beziehung zu einer der metaphyſiſchen Schulen. Dieſem Gange der Entwicklung entſprach, daß zugleich neue metaphyſiſche Sekten entſtanden, welche ſich in den Dienſt der perſönlichen Befriedigung des Gemüths begaben.
So ſondern ſich eine Metaphyſik, welche die Leitung der wiſſenſchaftlichen Bewegung aufgiebt, und Einzelwiſſenſchaften, die ſich poſitiv, von Empirie und Vergleichung aus, entwickeln. Stoiſche, epikureiſche, eklektiſche Metaphyſik waren Mächte der Kultur, der großen gebildeten Geſellſchaft; die Einzelwiſſenſchaft
Dilthey, Einleitung. 20
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Fortg. d. Differenz. d. Wiſſenſch. u. Abſond. d. Einzelwiſſenſchaften.
ein. Wir können nicht erkennen, welche Gemüthsverfaſſung für
uns das Gute ſei, da wir nicht einmal wiſſen, ob und was
die Seele iſt, um deren Verfaſſung es ſich handelt. Ein grober
Trugſchluß des Skepticismus!
Die nachariſtoteliſche Metaphyſik und ihr
ſubjektiver Charakter.
Die Philoſophie war die organiſatoriſche Macht geweſen, welche
noch zuletzt in der ariſtoteliſchen Schule den ganzen Inbegriff der
wiſſenſchaftlichen Forſchungen geleitet hatte, wie in der platoniſchen
Schule die mathematiſche und aſtronomiſche. Die Geſchichte des
ſkeptiſchen Geiſtes, wie wir ihn geſchildert haben, zeigt aber, daß
auch die Vollendung der Metaphyſik in Ariſtoteles nicht vermocht
hatte, den negativen erkenntnißtheoretiſchen Standpunkt, welcher in
den Sophiſten zunächſt einer unvollkommneren Metaphyſik gegen-
übergetreten war, zu überwinden. Andrerſeits war nunmehr eine
Aenderung dadurch vorbereitet, daß unter dem organiſatoriſchen Ein-
fluß der metaphyſiſchen Philoſophie Natur- und Geiſteswiſſen-
ſchaften herangewachſen waren. So vollzog ſich in dem
großen Differenzirungsproceß des europäiſchen Geiſtes eine
weitere Sonderung. Von der Metaphyſik, der Naturphiloſophie
und der praktiſchen Philoſophie löſten ſich nunmehr die Einzelwiſſen-
ſchaften bis zu einem gewiſſen Grade los. Jedoch geſchah dieſe
Abtrennung noch nicht ſo folgerichtig als in der neueren Zeit. Viele
der bedeutendſten poſitiven Forſcher blieben in einem Schulver-
band oder doch in innerer Beziehung zu einer der metaphyſiſchen
Schulen. Dieſem Gange der Entwicklung entſprach, daß zugleich
neue metaphyſiſche Sekten entſtanden, welche ſich in den Dienſt
der perſönlichen Befriedigung des Gemüths begaben.
So ſondern ſich eine Metaphyſik, welche die Leitung der
wiſſenſchaftlichen Bewegung aufgiebt, und Einzelwiſſenſchaften, die
ſich poſitiv, von Empirie und Vergleichung aus, entwickeln.
Stoiſche, epikureiſche, eklektiſche Metaphyſik waren Mächte der
Kultur, der großen gebildeten Geſellſchaft; die Einzelwiſſenſchaft
Dilthey, Einleitung. 20
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/328>, abgerufen am 21.11.2024.
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