Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Problem ihres Verhältnisses zu den nächstverwandten Erscheinungen. die Beziehungen der Metaphysik zu Religion, Mythos undTheologie ohne die hier nothwendige Zerlegung des zusammenge- setzten Thatbestandes behandelt, und seine Theorie tritt daher in Widerspruch mit den Thatsachen der Geschichte und der Ge- sellschaft. Ja seine Auffassung der Metaphysik selber entbehrt der geschichtlichen Einsicht in die wahren Grundlagen der Macht derselben. Kant seinerseits giebt eine Konstruktion, nicht eine geschichtliche Darlegung, und diese Konstruktion ist von seinem erkenntnißtheo- retischen Standpunkt, innerhalb desselben von seiner Ableitung alles apodiktischen Wissens aus den Bedingungen des Bewußtseins, ein- seitig bestimmt. Die nachfolgende Darlegung analysirt nur den geschichtlichen Thatbestand; an späterer Stelle kann ihm das Er- gebniß aus der Analysis des Bewußtseins zur Bestätigung dienen. Drittes Kapitel. Das religiöse Leben als Unterlage der Metaphysik. Der Zeit- raum des mythischen Vorstellens. Niemand kann bezweifeln, daß der Entstehung der Wissen- 1) Turgot hat zuerst versucht das Gesetzmäßige in der Entwicklung
der Intelligenz zu entwickeln, da Vico's scienza nuova (1725) sich auf die Entwicklung der Nationen bezieht. Er geht richtig von der Sprache aus; das mythische Vorstellen bezeichnet ihm dann die erste Stufe des auf die Ursachen gerichteten Forschens. "La pauvrete des langues et la necessite des metaphores, qui resultoient de cette pauvrete, firent qu'on employa les allegories et les fables pour expliquer les phenomenes physiques. Elles sont les premiers pas de la philosophie. [Oeuvres 2, 272 (Paris 1808) aus den Papieren Turgot's, die auf seine Reden über die Geschichte von 1750 sich bezogen.] Les hommes, frappes des phenomenes sensibles, supposerent que tous les effets independans de leur action etoient produits par des etres semblables a eux, mais invisibles et plus puissans [2, p. 63]. Problem ihres Verhältniſſes zu den nächſtverwandten Erſcheinungen. die Beziehungen der Metaphyſik zu Religion, Mythos undTheologie ohne die hier nothwendige Zerlegung des zuſammenge- ſetzten Thatbeſtandes behandelt, und ſeine Theorie tritt daher in Widerſpruch mit den Thatſachen der Geſchichte und der Ge- ſellſchaft. Ja ſeine Auffaſſung der Metaphyſik ſelber entbehrt der geſchichtlichen Einſicht in die wahren Grundlagen der Macht derſelben. Kant ſeinerſeits giebt eine Konſtruktion, nicht eine geſchichtliche Darlegung, und dieſe Konſtruktion iſt von ſeinem erkenntnißtheo- retiſchen Standpunkt, innerhalb deſſelben von ſeiner Ableitung alles apodiktiſchen Wiſſens aus den Bedingungen des Bewußtſeins, ein- ſeitig beſtimmt. Die nachfolgende Darlegung analyſirt nur den geſchichtlichen Thatbeſtand; an ſpäterer Stelle kann ihm das Er- gebniß aus der Analyſis des Bewußtſeins zur Beſtätigung dienen. Drittes Kapitel. Das religiöſe Leben als Unterlage der Metaphyſik. Der Zeit- raum des mythiſchen Vorſtellens. Niemand kann bezweifeln, daß der Entſtehung der Wiſſen- 1) Turgot hat zuerſt verſucht das Geſetzmäßige in der Entwicklung
der Intelligenz zu entwickeln, da Vico’s scienza nuova (1725) ſich auf die Entwicklung der Nationen bezieht. Er geht richtig von der Sprache aus; das mythiſche Vorſtellen bezeichnet ihm dann die erſte Stufe des auf die Urſachen gerichteten Forſchens. „La pauvreté des langues et la nécessité des métaphores, qui résultoient de cette pauvreté, firent qu’on employa les allégories et les fables pour expliquer les phénomènes physiques. Elles sont les premiers pas de la philosophie. [Oeuvres 2, 272 (Paris 1808) aus den Papieren Turgot’s, die auf ſeine Reden über die Geſchichte von 1750 ſich bezogen.] Les hommes, frappés des phénomènes sensibles, supposèrent que tous les effets indépendans de leur action êtoient produits par des êtres semblables à eux, mais invisibles et plus puissans [2, p. 63]. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0190" n="167"/><fw place="top" type="header">Problem ihres Verhältniſſes zu den nächſtverwandten Erſcheinungen.</fw><lb/> die Beziehungen der Metaphyſik zu Religion, Mythos und<lb/> Theologie ohne die hier nothwendige Zerlegung des zuſammenge-<lb/> ſetzten Thatbeſtandes behandelt, und ſeine Theorie tritt daher<lb/> in Widerſpruch mit den Thatſachen der Geſchichte und der Ge-<lb/> ſellſchaft. Ja ſeine Auffaſſung der Metaphyſik ſelber entbehrt der<lb/> geſchichtlichen Einſicht in die wahren Grundlagen der Macht derſelben.<lb/> Kant ſeinerſeits giebt eine Konſtruktion, nicht eine geſchichtliche<lb/> Darlegung, und dieſe Konſtruktion iſt von ſeinem erkenntnißtheo-<lb/> retiſchen Standpunkt, innerhalb deſſelben von ſeiner Ableitung alles<lb/> apodiktiſchen Wiſſens aus den Bedingungen des Bewußtſeins, ein-<lb/> ſeitig beſtimmt. Die nachfolgende Darlegung analyſirt nur den<lb/> geſchichtlichen Thatbeſtand; an ſpäterer Stelle kann ihm das Er-<lb/> gebniß aus der Analyſis des Bewußtſeins zur Beſtätigung dienen.</p> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <div n="3"> <head><hi rendition="#g">Drittes Kapitel</hi>.<lb/><hi rendition="#b">Das religiöſe Leben als Unterlage der Metaphyſik. Der Zeit-<lb/> raum des mythiſchen Vorſtellens.</hi></head><lb/> <p>Niemand kann bezweifeln, daß der Entſtehung der Wiſſen-<lb/> ſchaften in Europa eine Zeit vorausgegangen iſt, in welcher die<lb/> intellektuelle Entwicklung ſich in der Sprache, Dichtung und im<lb/> mythiſchen Vorſtellen ſowie im Fortſchritt der Erfahrungen des<lb/> praktiſchen Lebens vollzog, dagegen eine Metaphyſik oder Wiſſen-<lb/> ſchaft noch nicht beſtand <note place="foot" n="1)">Turgot hat zuerſt verſucht das Geſetzmäßige in der Entwicklung<lb/> der Intelligenz zu entwickeln, da Vico’s <hi rendition="#aq">scienza nuova (1725)</hi> ſich auf die<lb/> Entwicklung der Nationen bezieht. Er geht richtig von der Sprache aus;<lb/> das mythiſche Vorſtellen bezeichnet ihm dann die erſte Stufe des auf die<lb/> Urſachen gerichteten Forſchens. „<hi rendition="#aq">La pauvreté des langues et la nécessité<lb/> des métaphores, qui résultoient de cette pauvreté, firent qu’on employa<lb/> les allégories et les fables pour expliquer les phénomènes physiques.<lb/> Elles sont les premiers pas de la philosophie. [Oeuvres 2, 272 (Paris 1808)</hi><lb/> aus den Papieren Turgot’s, die auf ſeine Reden über die Geſchichte von 1750<lb/> ſich bezogen.] <hi rendition="#aq">Les hommes, frappés des phénomènes sensibles, supposèrent<lb/> que tous les effets indépendans de leur action êtoient produits par des<lb/> êtres semblables à eux, mais invisibles et plus puissans [2, p. 63].</hi></note>. — Wir treffen die europäiſche Menſch-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [167/0190]
Problem ihres Verhältniſſes zu den nächſtverwandten Erſcheinungen.
die Beziehungen der Metaphyſik zu Religion, Mythos und
Theologie ohne die hier nothwendige Zerlegung des zuſammenge-
ſetzten Thatbeſtandes behandelt, und ſeine Theorie tritt daher
in Widerſpruch mit den Thatſachen der Geſchichte und der Ge-
ſellſchaft. Ja ſeine Auffaſſung der Metaphyſik ſelber entbehrt der
geſchichtlichen Einſicht in die wahren Grundlagen der Macht derſelben.
Kant ſeinerſeits giebt eine Konſtruktion, nicht eine geſchichtliche
Darlegung, und dieſe Konſtruktion iſt von ſeinem erkenntnißtheo-
retiſchen Standpunkt, innerhalb deſſelben von ſeiner Ableitung alles
apodiktiſchen Wiſſens aus den Bedingungen des Bewußtſeins, ein-
ſeitig beſtimmt. Die nachfolgende Darlegung analyſirt nur den
geſchichtlichen Thatbeſtand; an ſpäterer Stelle kann ihm das Er-
gebniß aus der Analyſis des Bewußtſeins zur Beſtätigung dienen.
Drittes Kapitel.
Das religiöſe Leben als Unterlage der Metaphyſik. Der Zeit-
raum des mythiſchen Vorſtellens.
Niemand kann bezweifeln, daß der Entſtehung der Wiſſen-
ſchaften in Europa eine Zeit vorausgegangen iſt, in welcher die
intellektuelle Entwicklung ſich in der Sprache, Dichtung und im
mythiſchen Vorſtellen ſowie im Fortſchritt der Erfahrungen des
praktiſchen Lebens vollzog, dagegen eine Metaphyſik oder Wiſſen-
ſchaft noch nicht beſtand 1). — Wir treffen die europäiſche Menſch-
1) Turgot hat zuerſt verſucht das Geſetzmäßige in der Entwicklung
der Intelligenz zu entwickeln, da Vico’s scienza nuova (1725) ſich auf die
Entwicklung der Nationen bezieht. Er geht richtig von der Sprache aus;
das mythiſche Vorſtellen bezeichnet ihm dann die erſte Stufe des auf die
Urſachen gerichteten Forſchens. „La pauvreté des langues et la nécessité
des métaphores, qui résultoient de cette pauvreté, firent qu’on employa
les allégories et les fables pour expliquer les phénomènes physiques.
Elles sont les premiers pas de la philosophie. [Oeuvres 2, 272 (Paris 1808)
aus den Papieren Turgot’s, die auf ſeine Reden über die Geſchichte von 1750
ſich bezogen.] Les hommes, frappés des phénomènes sensibles, supposèrent
que tous les effets indépendans de leur action êtoient produits par des
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