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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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Gesetz nennen darf. Aber es gibt eben auch solche lautliche
Bewegungen, die jener vorschnell aufgestellten Forderung sich
nicht fügen.

c) Die Erscheinungen der Synizese und der von Fritsch,
Stud. VI, gründlich erörterten Hyphaeresis darf man ebenfalls
hierher stellen. Auch diese Erscheinungen sind in Namen-
bildungen und namenartigen Wörtern besonders häufig. Man
denke an Eigennamen wie Thedoros statt Theodoros, an das
homerische thespis, das vielleicht nur ein Kurzwort für thespe-
sios
ist. Dazu gehört wahrscheinlich auch der kretische Name
Thibos, welcher von Baunack Stud. X, 84 scharfsinnig aus
Thioboulos, d. i. Theoboulos, gedeutet wird. Ich mache darauf
aufmerksam, dass der Wortaccent dergleichen Kürzungen in
keiner Weise hindert.

d) Hierher gehören wahrscheinlich auch die Stammkür-
zungen in den Comparativen und Superlativen, die zu den
merkwürdigsten Ausnahmen von der allgemeinen Regel zu rech-
nen sind, dass die abgeleitete Stammbildung aus dem vollen
Stamme des primitiveren Wortes hervorgeht. Man erinnere
sich solcher Formen wie Rigion, algistos, aiskhion, edion.
Man sagt wohl, der Comparativ werde hier "aus der Wurzel"
gebildet, allein mit welchem Rechte kann man z. B. das aus
Wurzel (?) aid (aidomai, aidos) hervorgegangene aiskh von
aiskhion eine Wurzel nennen, und was hat begrifflich die Wur-
zel mit der Comparation der Adjectiva zu thun ? Die Steige-
rung setzt unbedingt den Begriff einer Eigenschaft, also eines
Nomens voraus, edion, Rigion haben schwerlich von Haus
aus ohne einen Positiv bestanden, vielleicht nur nicht von An-
fang an neben dem später üblichen. Bei weiterem Suchen wird
man gewiss noch manches dem ähnliche finden können und
Kürzung als einen nicht zu übersehenden Factor der Sprach-
bildung betrachten dürfen. Es kommt mir so vor, als ob
neuerdings bei denen, welche früher die lautesten Bekenner
jenes Dualismus von lautgesetzlicher Bewegung einerseits und

Gesetz nennen darf. Aber es gibt eben auch solche lautliche
Bewegungen, die jener vorschnell aufgestellten Forderung sich
nicht fügen.

c) Die Erscheinungen der Synizese und der von Fritsch,
Stud. VI, gründlich erörterten Hyphaeresis darf man ebenfalls
hierher stellen. Auch diese Erscheinungen sind in Namen-
bildungen und namenartigen Wörtern besonders häufig. Man
denke an Eigennamen wie Θέδωρος statt Θεόδωρος, an das
homerische θέσπις, das vielleicht nur ein Kurzwort für θεσπέ-
σιος
ist. Dazu gehört wahrscheinlich auch der kretische Name
Θίβος, welcher von Baunack Stud. X, 84 scharfsinnig aus
Θιόβουλος, d. i. Θεόβουλος, gedeutet wird. Ich mache darauf
aufmerksam, dass der Wortaccent dergleichen Kürzungen in
keiner Weise hindert.

d) Hierher gehören wahrscheinlich auch die Stammkür-
zungen in den Comparativen und Superlativen, die zu den
merkwürdigsten Ausnahmen von der allgemeinen Regel zu rech-
nen sind, dass die abgeleitete Stammbildung aus dem vollen
Stamme des primitiveren Wortes hervorgeht. Man erinnere
sich solcher Formen wie ῥίγιον, ἄλγιστος, αἰσχίων, ἡδίων.
Man sagt wohl, der Comparativ werde hier „aus der Wurzel“
gebildet, allein mit welchem Rechte kann man z. B. das aus
Wurzel (?) αἰδ (αἴδομαι, αἰδώς) hervorgegangene αἰσχ von
αἰσχίων eine Wurzel nennen, und was hat begrifflich die Wur-
zel mit der Comparation der Adjectiva zu thun ? Die Steige-
rung setzt unbedingt den Begriff einer Eigenschaft, also eines
Nomens voraus, ἡδίων, ῥίγιον haben schwerlich von Haus
aus ohne einen Positiv bestanden, vielleicht nur nicht von An-
fang an neben dem später üblichen. Bei weiterem Suchen wird
man gewiss noch manches dem ähnliche finden können und
Kürzung als einen nicht zu übersehenden Factor der Sprach-
bildung betrachten dürfen. Es kommt mir so vor, als ob
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[87/0095] Gesetz nennen darf. Aber es gibt eben auch solche lautliche Bewegungen, die jener vorschnell aufgestellten Forderung sich nicht fügen. c) Die Erscheinungen der Synizese und der von Fritsch, Stud. VI, gründlich erörterten Hyphaeresis darf man ebenfalls hierher stellen. Auch diese Erscheinungen sind in Namen- bildungen und namenartigen Wörtern besonders häufig. Man denke an Eigennamen wie Θέδωρος statt Θεόδωρος, an das homerische θέσπις, das vielleicht nur ein Kurzwort für θεσπέ- σιος ist. Dazu gehört wahrscheinlich auch der kretische Name Θίβος, welcher von Baunack Stud. X, 84 scharfsinnig aus Θιόβουλος, d. i. Θεόβουλος, gedeutet wird. Ich mache darauf aufmerksam, dass der Wortaccent dergleichen Kürzungen in keiner Weise hindert. d) Hierher gehören wahrscheinlich auch die Stammkür- zungen in den Comparativen und Superlativen, die zu den merkwürdigsten Ausnahmen von der allgemeinen Regel zu rech- nen sind, dass die abgeleitete Stammbildung aus dem vollen Stamme des primitiveren Wortes hervorgeht. Man erinnere sich solcher Formen wie ῥίγιον, ἄλγιστος, αἰσχίων, ἡδίων. Man sagt wohl, der Comparativ werde hier „aus der Wurzel“ gebildet, allein mit welchem Rechte kann man z. B. das aus Wurzel (?) αἰδ (αἴδομαι, αἰδώς) hervorgegangene αἰσχ von αἰσχίων eine Wurzel nennen, und was hat begrifflich die Wur- zel mit der Comparation der Adjectiva zu thun ? Die Steige- rung setzt unbedingt den Begriff einer Eigenschaft, also eines Nomens voraus, ἡδίων, ῥίγιον haben schwerlich von Haus aus ohne einen Positiv bestanden, vielleicht nur nicht von An- fang an neben dem später üblichen. Bei weiterem Suchen wird man gewiss noch manches dem ähnliche finden können und Kürzung als einen nicht zu übersehenden Factor der Sprach- bildung betrachten dürfen. Es kommt mir so vor, als ob neuerdings bei denen, welche früher die lautesten Bekenner jenes Dualismus von lautgesetzlicher Bewegung einerseits und

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/95>, abgerufen am 26.04.2024.