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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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Kriterien zu gewinnen, damit wir die falschen Behauptungen
der Art, die doch auch von den begeistertsten Verehrern der
"Himmelstochter" nicht als ausgeschlossen betrachtet werden
dürften, von den unstreitig vorhandenen richtigen einigermassen
zu unterscheiden vermögen. Es mag verdienstlich sein, dass
man dieses früher mehr gelegentlich benutzte Erklärungsmittel
in weiterem Umfange heranzog, aber man hat -- ein psycho-
logisch leicht erklärbarer Vorgang -- in der Begeisterung für
das neue Heilmittel die auf diesem Wege gewonnenen Erklä-
rungsversuche stark übertrieben und vielfach ohne eingehende
Prüfung des einzelnen Falles zwischen dem principiell mög-
lichen und dem im einzelnen Falle wahrscheinlichen gar zu
wenig unterschieden.

Die erste Forderung, welche wir an den stellen, welcher
behauptet, eine Wortform, die wir a nennen wollen, habe auf
eine zweite, die wir b nennen, assimilirend eingewirkt, ist
die, dass die Form a neben b an einem und demselben Ort
und zu einer und derselben Zeit bestanden habe. Gegen diese
Forderung fehlt Bezzenberger in seinen Beitr. II, 192, indem
er behauptet, die 3. Pers. Sing, enti statt ensi hätte sich nach
der 1. Pers. emmi gebildet. Die Form enti ist, wie wir jetzt
wissen, rhodisch (Cauer Del.2 Nr. 177,11), früher galt sie auch
für elisch; emmi aber war nur lesbisch und nach Massgabe der
neuerdings gewonnenen Denkmäler von Larissa auch nordthes-
salisch (Cauer Nr. 403), folglich könnte auch enti höchstens
in diesen Mundarten, durchaus nicht in der Gruppe des Insel-
dorismus, nach emmi gebildet sein. Für das Elische also und
Rhodische ist jene Behauptung unbedingt unzulässig. Ich
verweise dabei auf meine Bemerkungen in den Leipz. Stud.
IV, 316 ff.

Nicht eben häufig mag es möglich sein, bestimmt nach-
zuweisen, dass eine Form, welche in den Verdacht gebracht
ist, das Vorbild einer zweiten zu sein, vor dieser überhaupt
gar nicht existirt hat. Ein Fall der Art ist folgender. Die

Kriterien zu gewinnen, damit wir die falschen Behauptungen
der Art, die doch auch von den begeistertsten Verehrern der
„Himmelstochter“ nicht als ausgeschlossen betrachtet werden
dürften, von den unstreitig vorhandenen richtigen einigermassen
zu unterscheiden vermögen. Es mag verdienstlich sein, dass
man dieses früher mehr gelegentlich benutzte Erklärungsmittel
in weiterem Umfange heranzog, aber man hat — ein psycho-
logisch leicht erklärbarer Vorgang — in der Begeisterung für
das neue Heilmittel die auf diesem Wege gewonnenen Erklä-
rungsversuche stark übertrieben und vielfach ohne eingehende
Prüfung des einzelnen Falles zwischen dem principiell mög-
lichen und dem im einzelnen Falle wahrscheinlichen gar zu
wenig unterschieden.

Die erste Forderung, welche wir an den stellen, welcher
behauptet, eine Wortform, die wir a nennen wollen, habe auf
eine zweite, die wir b nennen, assimilirend eingewirkt, ist
die, dass die Form a neben b an einem und demselben Ort
und zu einer und derselben Zeit bestanden habe. Gegen diese
Forderung fehlt Bezzenberger in seinen Beitr. II, 192, indem
er behauptet, die 3. Pers. Sing, ἐντί statt ἐνσί hätte sich nach
der 1. Pers. ἔμμι gebildet. Die Form ἐντί ist, wie wir jetzt
wissen, rhodisch (Cauer Del.2 Nr. 177,11), früher galt sie auch
für elisch; ἔμμι aber war nur lesbisch und nach Massgabe der
neuerdings gewonnenen Denkmäler von Larissa auch nordthes-
salisch (Cauer Nr. 403), folglich könnte auch ἐντί höchstens
in diesen Mundarten, durchaus nicht in der Gruppe des Insel-
dorismus, nach ἔμμι gebildet sein. Für das Elische also und
Rhodische ist jene Behauptung unbedingt unzulässig. Ich
verweise dabei auf meine Bemerkungen in den Leipz. Stud.
IV, 316 ff.

Nicht eben häufig mag es möglich sein, bestimmt nach-
zuweisen, dass eine Form, welche in den Verdacht gebracht
ist, das Vorbild einer zweiten zu sein, vor dieser überhaupt
gar nicht existirt hat. Ein Fall der Art ist folgender. Die

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[47/0055] Kriterien zu gewinnen, damit wir die falschen Behauptungen der Art, die doch auch von den begeistertsten Verehrern der „Himmelstochter“ nicht als ausgeschlossen betrachtet werden dürften, von den unstreitig vorhandenen richtigen einigermassen zu unterscheiden vermögen. Es mag verdienstlich sein, dass man dieses früher mehr gelegentlich benutzte Erklärungsmittel in weiterem Umfange heranzog, aber man hat — ein psycho- logisch leicht erklärbarer Vorgang — in der Begeisterung für das neue Heilmittel die auf diesem Wege gewonnenen Erklä- rungsversuche stark übertrieben und vielfach ohne eingehende Prüfung des einzelnen Falles zwischen dem principiell mög- lichen und dem im einzelnen Falle wahrscheinlichen gar zu wenig unterschieden. Die erste Forderung, welche wir an den stellen, welcher behauptet, eine Wortform, die wir a nennen wollen, habe auf eine zweite, die wir b nennen, assimilirend eingewirkt, ist die, dass die Form a neben b an einem und demselben Ort und zu einer und derselben Zeit bestanden habe. Gegen diese Forderung fehlt Bezzenberger in seinen Beitr. II, 192, indem er behauptet, die 3. Pers. Sing, ἐντί statt ἐνσί hätte sich nach der 1. Pers. ἔμμι gebildet. Die Form ἐντί ist, wie wir jetzt wissen, rhodisch (Cauer Del.2 Nr. 177,11), früher galt sie auch für elisch; ἔμμι aber war nur lesbisch und nach Massgabe der neuerdings gewonnenen Denkmäler von Larissa auch nordthes- salisch (Cauer Nr. 403), folglich könnte auch ἐντί höchstens in diesen Mundarten, durchaus nicht in der Gruppe des Insel- dorismus, nach ἔμμι gebildet sein. Für das Elische also und Rhodische ist jene Behauptung unbedingt unzulässig. Ich verweise dabei auf meine Bemerkungen in den Leipz. Stud. IV, 316 ff. Nicht eben häufig mag es möglich sein, bestimmt nach- zuweisen, dass eine Form, welche in den Verdacht gebracht ist, das Vorbild einer zweiten zu sein, vor dieser überhaupt gar nicht existirt hat. Ein Fall der Art ist folgender. Die

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/55>, abgerufen am 27.04.2024.