Als wir im vorigen Jahre zur akademischen Feier hier versammelt waren und unsere Gedanken sich mit dem beschäf¬ tigten, was bei aller Mannigfaltigkeit der Fachstudien als die gemeinsame Aufgabe unserer wissenschaftlichen Arbeit angesehen werden könnte, fanden wir einen solchen Mittelpunkt in der historischen Forschung, welche darauf ausgeht, in Natur und Menschenwelt die gegebenen Thatsachen zu begreifen. Aber wie weit gehen doch die beiden Richtungen dieser Forschung auseinander! Der Naturforscher fühlt sich am Ziele, wenn er das Gesetz erkannt hat, nach welchem sich unabänderlich die¬ selben Erscheinungen unter gleichen Bedingungen wiederholen müssen. Aber wann ist der Geschichtsforscher am Ziele, wann kann er auch auf einem noch so eng begränzten Gebiete die Untersuchung für geschlossen ansehen! Denn wenn durch Sammlung, Prüfung und Sichtung der Ueberlieferung die Thatsachen festgestellt und nach ihrer Zeitfolge geordnet sind, was wissen wir dann von dem Volke, dessen Geschichte uns beschäftigt? Nicht mehr, als wir von einem Menschen wissen, dessen äußeren Lebensgang wir uns haben erzählen lassen. Unsere Theilnahme wird angeregt und der Wunsch geweckt, ihn näher kennen zu lernen. Jede nähere Bekannt¬ schaft aber beginnt erst dann, wenn sein inneres Leben uns entgegentritt, wenn wir seinen Bildungsgang, sein sittliches Streben, seine wissenschaftlichen Ziele kennen lernen. Haben
VI. Der Weltgang der griechiſchen Cultur.
Als wir im vorigen Jahre zur akademiſchen Feier hier verſammelt waren und unſere Gedanken ſich mit dem beſchäf¬ tigten, was bei aller Mannigfaltigkeit der Fachſtudien als die gemeinſame Aufgabe unſerer wiſſenſchaftlichen Arbeit angeſehen werden könnte, fanden wir einen ſolchen Mittelpunkt in der hiſtoriſchen Forſchung, welche darauf ausgeht, in Natur und Menſchenwelt die gegebenen Thatſachen zu begreifen. Aber wie weit gehen doch die beiden Richtungen dieſer Forſchung auseinander! Der Naturforſcher fühlt ſich am Ziele, wenn er das Geſetz erkannt hat, nach welchem ſich unabänderlich die¬ ſelben Erſcheinungen unter gleichen Bedingungen wiederholen müſſen. Aber wann iſt der Geſchichtsforſcher am Ziele, wann kann er auch auf einem noch ſo eng begränzten Gebiete die Unterſuchung für geſchloſſen anſehen! Denn wenn durch Sammlung, Prüfung und Sichtung der Ueberlieferung die Thatſachen feſtgeſtellt und nach ihrer Zeitfolge geordnet ſind, was wiſſen wir dann von dem Volke, deſſen Geſchichte uns beſchäftigt? Nicht mehr, als wir von einem Menſchen wiſſen, deſſen äußeren Lebensgang wir uns haben erzählen laſſen. Unſere Theilnahme wird angeregt und der Wunſch geweckt, ihn näher kennen zu lernen. Jede nähere Bekannt¬ ſchaft aber beginnt erſt dann, wenn ſein inneres Leben uns entgegentritt, wenn wir ſeinen Bildungsgang, ſein ſittliches Streben, ſeine wiſſenſchaftlichen Ziele kennen lernen. Haben
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[0075]
VI.
Der Weltgang der griechiſchen Cultur.
Als wir im vorigen Jahre zur akademiſchen Feier hier
verſammelt waren und unſere Gedanken ſich mit dem beſchäf¬
tigten, was bei aller Mannigfaltigkeit der Fachſtudien als die
gemeinſame Aufgabe unſerer wiſſenſchaftlichen Arbeit angeſehen
werden könnte, fanden wir einen ſolchen Mittelpunkt in der
hiſtoriſchen Forſchung, welche darauf ausgeht, in Natur und
Menſchenwelt die gegebenen Thatſachen zu begreifen. Aber
wie weit gehen doch die beiden Richtungen dieſer Forſchung
auseinander! Der Naturforſcher fühlt ſich am Ziele, wenn er
das Geſetz erkannt hat, nach welchem ſich unabänderlich die¬
ſelben Erſcheinungen unter gleichen Bedingungen wiederholen
müſſen. Aber wann iſt der Geſchichtsforſcher am Ziele, wann
kann er auch auf einem noch ſo eng begränzten Gebiete die
Unterſuchung für geſchloſſen anſehen! Denn wenn durch
Sammlung, Prüfung und Sichtung der Ueberlieferung die
Thatſachen feſtgeſtellt und nach ihrer Zeitfolge geordnet ſind,
was wiſſen wir dann von dem Volke, deſſen Geſchichte uns
beſchäftigt? Nicht mehr, als wir von einem Menſchen
wiſſen, deſſen äußeren Lebensgang wir uns haben erzählen
laſſen. Unſere Theilnahme wird angeregt und der Wunſch
geweckt, ihn näher kennen zu lernen. Jede nähere Bekannt¬
ſchaft aber beginnt erſt dann, wenn ſein inneres Leben uns
entgegentritt, wenn wir ſeinen Bildungsgang, ſein ſittliches
Streben, ſeine wiſſenſchaftlichen Ziele kennen lernen. Haben
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/75>, abgerufen am 21.11.2024.
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