Unter den vielen Aussprüchen, welche uns von Staats¬ männern des Alterthums überliefert sind, hat kaum einer in gleichem Grade die Aufmerksamkeit erregt, wie die Bestim¬ mung Solon's, daß derjenige Bürger, welcher in Zeiten der Bewegung parteilos bleibe, sein Bürgerrecht verwirke und ehr¬ los sein solle. Ist die Parteiung, fragt man überrascht, nicht eine Krankheit des Gemeinwesens? Ist es also nicht eine Pflicht aller Wohlgesinnten, sich von der Ansteckung fern zu halten, und beruht nicht das Heil des Staats darauf, daß in stürmi¬ schen Zeiten eine Anzahl von Bürgern vorhanden ist, welche frei von aller Aufregung und unbeirrt durch den Gegensatz der Tagesstimmungen nur das Wohl des Ganzen im Auge haben? Und wie verträgt es sich mit der gesamten Thätigkeit eines Mannes, welcher selbst über den Parteien stand und durch Versöhnung derselben eine friedliche Staatsordnung be¬ gründete, daß er hier zum Bürgerkampfe auffordert und die Theilnahme daran als eine Bürgerpflicht hinstellt?
Das Gesetz Solon's ist nur im Zusammenhange mit dem hellenischen Volksleben verständlich. Freilich ist Parteiung so alt wie die Geschichte. Denn alles Werden beruht darauf, daß Theile vom Ganzen sich lösen und in Gegensatz zu ein¬ ander treten. Jede Volksgeschichte beginnt mit der Gliederung
Curtius, Alterthum. 21
XIX. Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme.
Unter den vielen Ausſprüchen, welche uns von Staats¬ männern des Alterthums überliefert ſind, hat kaum einer in gleichem Grade die Aufmerkſamkeit erregt, wie die Beſtim¬ mung Solon's, daß derjenige Bürger, welcher in Zeiten der Bewegung parteilos bleibe, ſein Bürgerrecht verwirke und ehr¬ los ſein ſolle. Iſt die Parteiung, fragt man überraſcht, nicht eine Krankheit des Gemeinweſens? Iſt es alſo nicht eine Pflicht aller Wohlgeſinnten, ſich von der Anſteckung fern zu halten, und beruht nicht das Heil des Staats darauf, daß in ſtürmi¬ ſchen Zeiten eine Anzahl von Bürgern vorhanden iſt, welche frei von aller Aufregung und unbeirrt durch den Gegenſatz der Tagesſtimmungen nur das Wohl des Ganzen im Auge haben? Und wie verträgt es ſich mit der geſamten Thätigkeit eines Mannes, welcher ſelbſt über den Parteien ſtand und durch Verſöhnung derſelben eine friedliche Staatsordnung be¬ gründete, daß er hier zum Bürgerkampfe auffordert und die Theilnahme daran als eine Bürgerpflicht hinſtellt?
Das Geſetz Solon's iſt nur im Zuſammenhange mit dem helleniſchen Volksleben verſtändlich. Freilich iſt Parteiung ſo alt wie die Geſchichte. Denn alles Werden beruht darauf, daß Theile vom Ganzen ſich löſen und in Gegenſatz zu ein¬ ander treten. Jede Volksgeſchichte beginnt mit der Gliederung
Curtius, Alterthum. 21
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XIX.
Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme.
Unter den vielen Ausſprüchen, welche uns von Staats¬
männern des Alterthums überliefert ſind, hat kaum einer in
gleichem Grade die Aufmerkſamkeit erregt, wie die Beſtim¬
mung Solon's, daß derjenige Bürger, welcher in Zeiten der
Bewegung parteilos bleibe, ſein Bürgerrecht verwirke und ehr¬
los ſein ſolle. Iſt die Parteiung, fragt man überraſcht, nicht
eine Krankheit des Gemeinweſens? Iſt es alſo nicht eine Pflicht
aller Wohlgeſinnten, ſich von der Anſteckung fern zu halten,
und beruht nicht das Heil des Staats darauf, daß in ſtürmi¬
ſchen Zeiten eine Anzahl von Bürgern vorhanden iſt, welche
frei von aller Aufregung und unbeirrt durch den Gegenſatz
der Tagesſtimmungen nur das Wohl des Ganzen im Auge
haben? Und wie verträgt es ſich mit der geſamten Thätigkeit
eines Mannes, welcher ſelbſt über den Parteien ſtand und
durch Verſöhnung derſelben eine friedliche Staatsordnung be¬
gründete, daß er hier zum Bürgerkampfe auffordert und die
Theilnahme daran als eine Bürgerpflicht hinſtellt?
Das Geſetz Solon's iſt nur im Zuſammenhange mit dem
helleniſchen Volksleben verſtändlich. Freilich iſt Parteiung ſo
alt wie die Geſchichte. Denn alles Werden beruht darauf,
daß Theile vom Ganzen ſich löſen und in Gegenſatz zu ein¬
ander treten. Jede Volksgeſchichte beginnt mit der Gliederung
Curtius, Alterthum. 21
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/337>, abgerufen am 21.11.2024.
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